Ach! Welch herrliches Gefühl!

20220420_110941

Im Jahr 1969 brachte der Beate-Uhse-Versand einen neuartigen »Damen-Vibrator« den Markt. »Die zarten Schwingungen dieses handlichen Massagestabes regen die Durchblutung an«, hieß es in der Produktbeschreibung im Katalog. (Siehe Beweisfoto.)

Vibratoren gab es damals bereits seit hundert Jahren und sie wurden stets genau so beworben: als Gesundheitsprodukte. Etwas anderes wäre verboten gewesen. Denn in der Bundesrepublik drohte Paragraf 184 des Strafgesetzbuchs allen mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe, die »unzüchtige Schriften« verbreiteten oder »Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind«, anpriesen. (Das Gesetz fiel erst einige Jahre später.)

Der »Damen-Vibrator« aber war ein Novum, schreibt die Hamburger Historikerin Nadine Beck. Bis dahin waren Vibratoren Unisex-Geräte und hatten eher die Form eines Haarföns. Nun wurden sie plötzlich phallisch und als Produkte »für Damen« beworben. Die Dame im Katalog hält sich den Vibrator zwar ins Gesicht, doch wofür das Ding eigentlich benutzt werden sollte, war nicht mehr zu übersehen — und ebnete den Weg für all die »Magic Wands« und »Womanizers« von heute.

Mehr zu Nadine Beck und ihrer Forschung zur Geschichte der Sextoys habe ich hier aufgeschrieben (für Menschen mit ZEIT-Abo).

Gegen Blümchensex

20220517_193619

Viel Aufhebens wird gerade um die Idee gemacht, man könne – nein, müsse! – Tiere, Pflanzen und andere Teile der Natur zu ihrem Recht kommen lassen. Zum Beispiel, indem man ihnen einklagbare Rechte zuspricht oder ihnen parlamentarische Vertretung verschafft.

Diese Ideen sind faszinierend, weil sie das Unwahrscheinliche vorschlagen und so völlig spekulativ sind. Vielleicht ist es deshalb kein Zufall, dass sie eher in den Sphären des Theaters, der Kunst und Kultur zirkulieren, als in jenen des Rechts und der praktischen Politik (das ist zumindest mein Eindruck).

»Solidarität ist die Zärtlichkeit der Spezies«, ist etwa in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Architektur und Urbanistik, Arch+, zu lesen (Nr. 247, »Cohabitation«). Damit ist dem Projekt sein zu erwartendes Scheitern schon eingeschrieben, denn der Spruch, der hier zititiert wird – Ché Guevaras »Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker« – endete für seinen Urheber nicht gut.

Die Idee der »Cohabitation«, also das gleichberechtigte Zusammenleben von Mensch und Tier, ist vermutlich auch nur so lange reizvoll, wie man keine Ratten in der Wohnung hat. Oder wenigstens Silberfische. Spätestens dann wird die Zärtlichkeit enden und die menschlichen Interessen werden sich handfest durchsetzen.

Teilweise verbirgt sich hinter der behaupteten Achtung tierischer oder pflanzlicher Bedürfnisse auch nur eine neue Übergriffigkeit des Menschen. Beispielhaft nachzulesen ist das in der Sonderausgabe »Kunst und Natur« (Nr. 2/2022) der Zeitschrift Weltkunst.

Weiterlesen „Gegen Blümchensex“

The Future of Fischzucht

20220513_190048

Zwei Drittel der Fischbestände in den europäischen Meeren sind überfischt oder sogar in ihrer Existenz bedroht, sagt ein führender Meeresbiologe. Sie würden sich aber rasch erholen, wenn wir nur für ein paar Jahren mit der Fischerei aufhörten.

Ist das realistisch? Vielleicht. Mein Kollege Götz Hamann von der ZEIT war unterwegs, um sich über Zuchtanlagen zu infomieren, bei denen Meeresfisch an Land heranreift. Dabei geht es um einen Ansatz im (fast) industriellen Maßstab, bei dem auch auf das Tierwohl geachtet wird. Wenn die Pilotprojekte in Serie gingen, würde das die Meere entlasten.

Wenn Sie Lust haben auf hoffnungsvolle Nachrichten und/oder Fisch, dann hören Sie doch vielleicht unser (kurzes) Gespräch über Hamanns Recherche im Podcast »Hinter der Geschichte«. Überall, wo es Podcasts gibt, sowie hier.

Deine Freunde: Pro und Contra

deinefreunde1

Deine Freunde machen Rap für Kinder und feiern gerade ihr zehnjähriges Jubiläum.

Im Feuilleton der ZEIT erkläre ich, warum ich sie für eine der interessantesten deutschsprachigen Bands überhaupt halte. Außerdem vergleiche ich sie mit Bill Withers und The Velvet Underground.

Jens Balzer erklärt daraufhin, warum er glaubt, dass ich kiffe. Und zwar mit meinen Kindern. Denen ich demnach auch darüber hinaus in ihrer Geschmacksbildung und Autonomiebestrebung Gewalt antue.

Lesen Sie die Feuilletondebatte des Frühjahrs, deren Temperament bereits von der Zeile angedeutet wird, die Lars Weisbrod als Redakteur kongenial drüberschrieb: »Du Eierloch!«

deinefreunde2

Zwei erwachsene Männer streiten über Kinderkram. 💥 Im Pro und Contra, jetzt in der ZEIT oder hier auf ZEIT ONLINE.

Jane Birkin im Sexshop

jane-birkin-beate-uhse

Heute ist die Präsidentenwahl in Frankreich, dazu diese kleine Trouvalie apropos les relations franco-allemandes: Einer der großen Skandalsongs der Pop-Geschichte, Je t’aime, … moi non plus von Jane Birkin und Serge Gainsbourg, wurde Anfang der 1970er-Jahre als Schallplatte im Versand der Flensburger Sexshop-Pionierin Beate Uhse angeboten.

Über den Song heißt es, er habe nach der Veröffentlichung im Jahr 1969 Stürme der Entrüstung ausgelöstet, weil Jane Birkin darin so überzeugend stöhnt, dass einige Hörer*innen fürchteten, sie würden einem echten Orgasmus beiwohnen:

Insofern ist es vielleicht nachvollziehbar, dass Beate Uhse die Platte in ihr Programm nahm und sie dort zwischen Pornoheften und anderen sexuellen Hilfsmitteln anbot. Trotzdem: Ist das ein Kompliment gegenüber der Künstlerin? Oder eine Riesenfrechheit? 🤔

Entdeckt beim Kaffee und Quellenstudium mit der Historikerin Nadine Beck, über deren Forschung ich ausführlicher in der kommenden Ausgabe der Hamburgseiten der ZEIT berichte (ab Donnerstag).

Schule im Containerbau

schulbau-hamburg-klassenhaus

Wer mit offenen Augen durch Hamburg läuft, kennt die Container, die längst nicht ehr nur im Hafen stehen, sondern auch auf den Schulhöfen der Stadt. Dort dienen sie als Klassenräume für Kinder, die in den Gebäuden keinen Platz mehr finden. Denn Hamburg wächst, und der Schulbau kommt nicht hinterher.

Öffentliche Bauvorhaben brauchen Zeit und oft sogar mehr Zeit als geplant. Das ist in der HafenCity zu sehen, wo die Schülerinnen und Schüler des neuen Gymnasiums, der Grund- und Stadtteilschule derzeit in einem »temporären Schuldorf« untergebracht sind. Genauer: in Containern. Erst in vier Jahren soll der eigene Neubau bezugsfertig sein. (Foto links)

Oder in Altona, wo anderthalb Jahre nach dem symbolischen ersten Spatenstich durch den Bürgermeister der Bau des Deutsch-Französischen Gymnasiums an der Königstraße immer noch nicht richtig angefangen hat. (Foto rechts)

Wie Finanz- und Schulbehörde das Problem lösen wollen (Spoiler: Es hat ebenfalls was mit Containern zu tun, aber auf ganz andere Weise), das habe ich hier für DIE ZEIT aufgeschrieben.

Bodentiefe Fenster: Die Geschichte einer Metapher

Vor einigen Jahren erzählte Anke Stelling in ihrem Roman Bodentiefen Fenster (2015) vom Leben einer jungen Familie in Prenzlauer Berg – nein, eigentlich ging es nur um eine junge Mutter und ihre Kinder (der Vater war trotz des emanzipierten Selbstverständnisses der Familie im Roman seltsam abwesend, vielleicht keine untypische Erfahrung).

Diese Frau, die Ich-Erzählerin Sandra, wird zerrieben zwischen den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellt, und jenen Ansprüchen, von denen sie meint, andere würden sie an sie stellen. Sie führt fraglos ein privilegiertes Leben, aber glücklich ist sie nicht. Stattdessen befindet sie sich in einer permanenten Mikropanik.

Eine exemplarische Szene:

Am Montagmorgen sind wir zu spät dran. Bo muss vor halb zehn in der Kita sein, zum Morgenkreis; die Erzieherinnen legen Wert darauf, den Tag gemeinsam zu beginnen. Die Erzieherinnen sind überzeugt, dass jemand, der sein Kind erst nach neun bringt, ohnehin nicht ernsthaft arbeitet, sondern nur zu faul sei, es zu Hause zu betreuen. Oder ich denke, dass sie das denken. Weil ich es selbst denke. Bo will Gummistiefel anziehen, obwohl draußen schon fünfundzwanzig Grad sind und keine Wolke zu sehen ist. Mir könnte das egal sein, aber mir graut vor den Blicken der Erzieherinnen. Ich will nicht, dass sie denken, ich sei so eine, die sich nicht gegen ihren Dreijährigen behaupten kann, eine, die alles mit ihm diskutiert und ihn am Ende selbst entscheiden lässt, was er anzieht, aus Angst, dass er sonst schreit oder tritt oder in seiner freien Entfaltung behindert wird. Ich weiß gar nicht, ob die Erzieherinnen das denken, aber ich weiß, dass ich das denke und solche Angstmütter nicht mehr ertragen kann; sie umzingeln mich und machen mich wahnsinnig.

(Die hier gefetteten Wörter sind im Originaltext kursiv hervorgehoben.)

Die für den Roman titelgebenden »bodentiefen Fenster« markieren nicht nur das Milieu, um das es hier geht (Eigentumswohnung, Baugemeinschaft, Szene-Kiez, Geld ist im Spiel, aber man lebt betont unspießig).

Sie sind auch eine Metapher für den Bewusstseinszustand der Protagonistin. Sie lebt wie in einem Panoptikum.

Weiterlesen „Bodentiefe Fenster: Die Geschichte einer Metapher“

Auf dem Schulhof mit Zoe Wees

Zoe Wees

»Zoe, das darf man doch nicht!«, rief Frau Wesemüller durch die Aula der Grund- und Stadtteilschule Alter Teichweg (ATW). Aber da stand Zoe Wees schon auf den Heizkörpern, um für den Fotografen Dennis Dirksen zu posieren.

Und vielleicht meinte es Sabine Wesemüller, die Leiterin der Grundschule und der legendären Chorkatzen, bei denen Zoe einst gesungen hat, auch gar nicht so ernst.

Sie waren ja alle froh, dass Zoe Wees wieder hier war: Das Mädchen, das vor zwei Jahren noch Schülerin des ATW war und inzwischen in einigen der beliebtesten amerikanischen Late-Night-Shows aufgetreten ist, als erste deutsche Künstlerin bei den American Music Awards und die bei Spotify mehr monatliche Hörer hat als Nena und Helene Fischer zusammen.

Mein Artikel über Zoe Wees, ihren sensationellen Erfolg als Sängerin, ihre alte Schule und alles andere, ist in der ZEIT im Hamburg-Ressort zu lesen oder hier auf ZEIT ONLINE (#abo).

Das beste Jugendbuch des Jahres

julianepickel

Krummer Hund ist das beste Jugendbuch des Jahres 2021. Sage nicht ich, sondern die Jury des Luchs-Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Urteil scheint mir plausibel zu sein.

Am Freitag, 18. März, wird der Preis an die Autorin Juliane Pickel überreicht, die Laudatio hält Sven Regener, das könnte ein guter Abend werden. (Für alle, die nicht in den Resonanzraum kommen können oder wollen, gibt es ab 19 Uhr einen Livestream hier.)

Ich habe Juliane Pickel neulich schon treffen dürfen, wir waren verabredet in einem Keller auf St. Pauli. Mein Text über unsere Begegnung steht jetzt hier auf ZEIT ONLINE.

Und wegen Krummer Hund: Man kann das auch sehr gut als Erwachsene/r lesen!

P.S.: Bitte nicht über meine Topfblumen lachen.