In der Hamburg-Redaktion der ZEIT haben wir heute etwas Neues probiert: Unser FAQ über Geflüchtete in Hamburg gibt es jetzt auch auf Ukrainisch (frei lesbar).
»Die Wissenschaft muss horizontal verteidigt werden«
Die Uni Hamburg hat einen Kodex Wissenschaftsfreiheit veröffentlicht. Steht es so schlecht um diese Freiheit? Nein, sagt der Juraprofessor Hans-Heinrich Trute, der die Schreibgruppe geleitet hat. Als ich ihn für ZEIT ONLINE interviewte, mahnte er aber zur Vorsicht (frei lesbar).
Clemens J. Setz schreibt im Feuilleton über seinen Penis. Das ist kein Witz.
Wir sind uns vermutlich einig, dass es Themen gibt, die gerade wichtiger und drängender sind, aber falls Sie es noch nicht gesehen haben: Der Schriftsteller Clemens J. Setz hat heute im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung eine ganze Seite über seine Vorhaut geschrieben.
Genauer: Darüber, wie er sie im Alter mit 22 verloren hat. Durch einen operativen Eingriff, der blutig, schmerzhaft und aus der heutigen Sicht des Autoren völlig unnötig war.
Es ist unangenehm, das zu lesen. Nicht, weil einem gleich die Kastrastionsangst kommt (obwohl, zugegeben, schon auch ein bisschen deshalb), sondern weil in der sachlichen und präzisen Schilderung von Setz deutlich wird, was es bedeutet, wenn ein medizinischer Apparat in Fragen der sexuellen oder genitalen Selbstbestimmung routiniert und rücksichtslos vorgeht.
(Das trifft in ungleicher Härte und Konsequenz Transpersonen und Intersexuelle, aber eben nicht ausschließlich diese, sondern oft genug auch Frauen, die gebären, oder, wie sich hier zeigt, weiße Cis-Dudes mit Vorhautverengung.)
Nachdem ich diesen Text gelesen hatte, war ich erst unentschieden, was ich davon halte. Ich glaube aber, dass es aufklärerisch ist, auf diese Weise über den Penis zu schreiben, der vielleicht nur vordergründig das weniger tabuisierte Genital ist.
Ich wüsste jedenfalls nicht, wann mir ein Autor seinen Schwanz so präsentierte: Verletzlich und verwundet, schwach, ausgeliefert und missbraucht. Hier geht es zu seinem Text.
(Dieses Posting ist zuerst auf piqd.de erschienen, der Website für handverlesene Leseempfehlungen aus dem Netz, nämlich hier.)
Soll man jetzt Anna Netrebko das Singen verbieten?
In München wurde in dieser Woche Valery Gergiev als Chefdirigent der Philharmoniker entlassen, in Hamburg hat die Opernsängerin Anna Netrebko ihren Auftritt in der Elbphilharmonie Hamburg kurzfristig abgesagt.
Beide gelten schon länger als Freunde Wladimir Putins und hatten sich zuvor nicht deutlich von ihm und seinem Überfall auf die Ukraine distanziert.
Dürfen wir von russischen Künstlerinnen und Künstlern politische Bekenntnisse einfordern? Oder droht hier eine neue Form von »Cancel Culture«, die Kultur unnötig politisiert und Künstlerinnen und Künstler erpresst?
Darüber habe ich im Podcast »Hinter der Geschichte« mit Florian Zinnecker gesprochen. Er hat im aktuellen Feuilleton der DIE ZEIT berichtet, wie einige russische Musikerinnen und Dirigenten um eine Haltung zum Angriffskrieg ihres Heimatlandes ringen.
Unser Gespräch: Überall, wo es Podcasts gibt oder hier.
»Amazons of Pop«: Hausfrauen, Sexpuppen & Superheldinnen
Am beinahe letzten möglichen Tag habe ich mir heute die Ausstellung Amazons of Pop: Künstlerinnen, Superheldinnen, Ikonen (1961–1973) in der Kunsthalle in Kiel angeschaut. Und, wow, was für ein Glück. Die Ausstellung ist so super, dass sich die Anreise aus Hamburg und der freie Tag, den man sich dafür nehmen muss, gelohnt haben.
Ich kam mit der Erwartung, eine Korrektur am Pop-Art-Kanon zu sehen und Künstlerinnen zu entdecken, die im Schatten ihrer männlichen Kollegen (Warhol, Lichtenstein, etc.) stehen und auch durch das Interesse an der Feministischen Avantgarde der 1970er-Jahre bisher nicht zu ihrem Recht kamen.
Und, ja, das ist ein Teil dessen, was hier passiert. Aber es geht um mehr. Was mich für diese Ausstellung einnimmt ist, dass sie nicht Kunst isoliert zeigt, sondern im kulturellen Verbund mit Pop-Musik, Fernsehen und überhaupt Massenkultur und Konsum. Es geht hier nicht um das »Wahre, Schöne, Gute«, sondern um die Zeitgeschichte der 1960er-Jahre.
Noch ehe ich die Ausstellungsräume betrete, sehe ich auf einem Monitor neben der Eingangstür die Aufzeichnung eines Auftritts von Serge Gainsbourg und Brigitte Bardot mit ihrem Song Comic Strip aus den Jahr 1967. In diesem Video steckt schon fast alles drin, das im Folgenden eine Rolle spielen wird. Zum Beispiel Kultur, die andere Kultur (niederen Grades) aufgreift: »Cross the border, close the gap!« Wir hören einen Chanson, dessen Refrain sich aber weder um besondere Poetik, noch überhaupt um menschliche Sprache bemüht, sondern aus lautmalerischen Comic-Sounds besteht: »She-bam«, »Pow!«, »Pop!«, »Wizz!«.
(Diese vier Worte trägt auch die Ausstellung von den Kuratorinnen Hélène Guenin und Géraldine Gourbe am MAMAC in Nizza als Titel, die Amazons of Pop zu Grunde liegt.)
Dazu sieht man Brigitte Bardot im eng anliegenden, fleischfarbenen Onesie (auf den ersten Blick könnte man sie für nackt halten) mit schwarze Overknee-Boots, Cape und goldene Kettchen um Hüfte und Oberschenkel. Das ist also die Pop-Amazone, die diese Ausstellung im Titel führt. Eine ermächtigte Frau — irgendwie. Gleichzeitig eine Männerfantasie.
Weiterlesen „»Amazons of Pop«: Hausfrauen, Sexpuppen & Superheldinnen“
Enjoy your fake life!
Ein Werbeclip der Firma Meta (a.k.a. Facebook), der während des Super Bowl lief (also dann, wenn besonders viele Menschen zuschauen):
Jemima Kelly kommentiert heute in der Financial Times:
The ad feels like a stinging satire on tech-bro capitalism – it could come straight out of Charlie Brooker’s dystopian TV series, »Black Mirror«. […] The message seems to be: your real life might suck, but fear not – you can have a fake one instead.
Mehr hier (Abo-Schranke).
Und jetzt, wo ich das abtippe, denke ich: Das könnte nicht nur aus Black Mirror sein, das ist aus Black Mirror! Season 3, Episode 4: San Junipero.
Wer sagt’s Zucki?
Jan Philipp Reemtsma über Querdenker
Werden Ungeimpfte stigmatisiert? Blödsinn, sagt Jan Philipp Reemtsma. In den Achtzigerjahren gründete er das Hamburger Instituts für Sozialforschung, in dem unter anderem Protestbewegungen beforscht werden.
Neben den »68ern«, deren Nachlass zum Teil im Archiv des Hauses aufbewahrt wird, gehören dazu neuerdings auch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Reemtsma hat die Leitung des Instituts im Jahr 2015 an seinen Nachfolger übergeben, meldet sich aber weiterhin als Intellektueller zu Wort.
Zu den Protesten der »Querdenker« sagt er: Statt um politische Forderungen gehe es nur um die Lust an der gemeinsamen Aufregung. Mehr dazu in meinem Interview mit Jan Philipp Reemtsma auf ZEIT ONLINE (frei lesbar).
»Kulturpolitik als Sicherheitspolitik«: Ein oder zwei Einwände
Claudia Roth, die neue Staatsministerin für Kunst und Kultur, ist offenbar die erste Amtsinhaberin, die heute an der Münchner Sicherheitskonferenz teilnimmt und dort mit dissidentischen Künstler*innen aus Belarus spricht.
»Kulturpolitik ist Demokratiepolitik, Kulturpolitik ist Sicherheitspolitik«, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.
Die Süddeutsche kommentiert Roths Kultur- und Amtsverständnis so:
Ihre Vorgängerin Monika Grütters, obwohl berühmt für Übergriffigkeit und Expansionswillen, vermied es stets, anderen Ressorts in die Quere zu kommen. Ohnehin verstand Gründers die Kultur als ein Reservat des Schönen, das von der Politik so weit wie möglich abzuschirmen ist, statt mit ihr verschaltet zu werden. Für Roth hingegen […] ist Kunst immer schon politisch.
Okay, aber was soll das heißen, was folgt daraus? Roth dazu heute im Radiosender RBB Kultur:
Wir sind in so ’nem weltweiten Battle zwischen autoritären, autokratischen Regimen vs. der Demokratie. Ich glaube, Kulturpolitik ist Demokratiepolitik, denn die Freiheit der Kunst, der Kultur, der Meinungsfreiheit, die Freiheit der Journalistinnen und Journalisten ist immer der Lackmustest für die Demokratie. Deshalb gehört zu einer Sicherheitspolitik auch die Frage: Wie sieht’s aus mit der Kunst und Kultur?
Dem wird wohl niemand, der der liberalen Demokratie anhängt, widersprechen. Interessant wird Roths zweite Frage in diesem Zusammenhang:
Welche Räume kann Kunst und Kultur schaffen, wo politische und diplomatische Räume schon lang verschlossen sind?
Die Antwort auf diese Frage ist heikel. Auch wenn die Frage an sich keinen neuen Gedanken ausdrückt. Zum Stichwort der »kulturellen Räume« oder der »vorpolitischen Räum« betonen etwa die Leute vom Goethe-Institut schon lange, sie trügen nicht die deutsche Kultur in die Welt (à la mission civilisatrice), sondern schüfen Räume der Begegnung, des Austauschs und freien Denkens und Redens. Zentrales Stichwort dabei stets: »Augenhöhe«.
Diesen Gedanken machten sich auch schon Außenminister wie Gabriel oder Steinmeier zu eigen. Üblicherweise wird dabei an repressive Ländern wie Iran, Afghanistan oder auch die Türkei gedacht, neuerdings auch an die USA.
Dazu noch mal die Süddeutsche, an anderer Stelle:
Schwer zu sagen, ob die Bundesregierung das Thomas-Mann-Haus im kalifornischen Pacific Palisades auch ohne den Siegeszug Donald Trumps gekauft hätte. Inzwischen weiß man aber: Der Ausbau des Anwesens zum Ort transatlantischen Dialogs darf nur der Anfang sein. Dass die Infrastruktur auswärtiger Kulturpolitik in Amerika nach der Jahrtausendwende abgebaut wurde, weil das transatlantische Verhältnis als stabil oder weniger wichtig galt, [war riskant].
Abgebaut haben zuerst die Amerikaner, nämlich die von ihnen über Jahrzehnte unterhaltenen Amerikahäuser und anderen kulturellen Einrichtungen in Westdeutschland, die die BRD gegen die Verlockungen des Sowjetkommunismus imprägnieren sollten. Dieser Zweck der Außenkulturpolitik hatte sich nach 1991 erschöpft.
Allerdings offenbart das auch das Problem jener, die die Kultur nicht nur als Lackmustest der Freiheit verstehen, sondern sie auch als, naja, Avantgarde politischer Freiheit fördern wollen.
Weiterlesen „»Kulturpolitik als Sicherheitspolitik«: Ein oder zwei Einwände“
Willkommen in der Science City!
Am Anfang war der Lärm. Ein ununterbrochenes Kratzen, Schleifen und Scharben. Das ist der Sound der Autobahn A7, die in den 1970er-Jahren ohne Rücksicht auf Verluste durch Bahrenfeld gepflügt wurde. Parks, Plätze, Seen, Knabenschulen: Weg damit und her mit dem Verkehr!
Dann kam der Wunsch, die Autobahn unter die Erde zu verlegen. Und schließlich die Idee, obendrüber einen neuen Stadtteil zu bauen, der von Stanford bis Shenzhen aller Welt zeigen soll, dass Hamburg nicht nur eine historische Hafenstadt ist, sondern ein Metropole der Wissenschaft und Innovation.
Über die Genese der »Science City Bahrenfeld«, die erstmal nicht viel mehr ist als eine Idee, berichtete ich in den Hamburg-Seiten der ZEIT. Der Text ist das Destillat vieler Gespräche und einiger Radtouren durch Bahrenfeld, Stellingen und Schnelsen – und jetzt auch online zu lesen (für alle Menschen mit ZEIT-Abo).
Was soll ich lesen? Houellebecq vs. Neft
Wenn Sie, werte Leserinnen und Leser, nur Zeit für einen neuen Roman mit Wolken auf dem Cover haben, der von der Aufarbeitung familiärer Traumata erzählt und am Ende stirbt die Hauptfigur an Krebs — wie sollen Sie sich dann entscheiden?
Für Michel Houellebecq und sein Buch Vernichten, das in allen Feuilletons auf Seite 1 besprochen wurde? Oder für Anselm Neft und Späte Kinder, einen Autoren, von dem Sie ehrlich gesagt noch nie gehört haben?
Easy. Nehmen Sie Neft. Das sage ich nicht nur, weil mich der Autor neulich nachts im Wohlerspark mit alkoholfreiem Bier gefügig machte und mir dann sein Buch in die wehrlosen Hände drückte.