Re: »Kulturpolitik als Sicherheitspolitik«

»Kulturpolitik ist Sicherheitspolitik«, sagte Claudia Roth (Grüne), die Staatsministerin für Kunst und Kultur, vor einigen Monaten. Aber das war vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, vor der anhaltenden Bombardierung der Städte dieses Landes und vor der allem Anschein nach teils wahllosen, teils gezielten Ermordung von Zivilisten durch die russische Armee.

Unmittelbar nach dem russischen Überfall beschloss der Bundestag, zusätzliche 100 Milliarden Euro in die Sicherheit zu investieren. Jetzt wurde bekannt, dass an der Außenkulturpolitik derweil gespart wird.

In einer Pressemitteilung des Goethe-Instituts heiĂźt es:

Für 2023 sieht der Haushaltsentwurf der Bundesregierung eine Kürzung der institutionellen Förderung des Goethe-Instituts auf 224 Millionen Euro vor, das sind 26 Millionen Euro weniger als noch 2021. Schon jetzt haben die 2022 erlittenen Kürzungen bewirkt, dass viele Institute im Ausland ihre Kulturarbeit bis Ende des Jahres praktisch einstellen müssen.

Die Inflation und steigenden Heizkosten kommen noch hinzu. Präsidentin Carola Lentz beteuert zwar, dass das Goethe-Institut »für die Bundesrepublik ein wesentliches Instrument internationaler Verständigung« sei, und wird in der Pressemitteilung mit den Worten zitiert:

Wir befinden uns allerdings wahrlich in einer für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg einmaligen Situation. Angesichts neuer geostrategischer Blockbildungen sowie enger werdender Freiheitsräume kommt der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eine noch wichtigere Rolle zu als bisher: Um für Deutschland als attraktiven Standort zu werben, um Kooperationen mit herausfordernden Partnerländern zu erhalten, um international die Freiräume für künstlerisches Experiment und offene Debatten zu verteidigen.

Doch trotz dieser Rhetorik – »Geostrategie«, »Blockbildung«, »verteidigen« – sprechen die Zahlen für sich: Kulturpolitik ist jetzt offenbar keine Sicherheitspolitik mehr.

Nachtrag, 14.9.2022: Die NZZ berichtet über das drohende Ende des vom Auswärtigen Amt finanzierten Online-Medius Qantara, das sich für den Dialog zwischen Deutschland und der islamischen Welt einsetzt: hier.

Jan Philipp Reemtsma ĂĽber Querdenker

Werden Ungeimpfte stigmatisiert? Blödsinn, sagt Jan Philipp Reemtsma. In den Achtzigerjahren gründete er das Hamburger Instituts für Sozialforschung, in dem unter anderem Protestbewegungen beforscht werden.

Neben den »68ern«, deren Nachlass zum Teil im Archiv des Hauses aufbewahrt wird, gehören dazu neuerdings auch die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen. Reemtsma hat die Leitung des Instituts im Jahr 2015 an seinen Nachfolger übergeben, meldet sich aber weiterhin als Intellektueller zu Wort.

Zu den Protesten der »Querdenker« sagt er: Statt um politische Forderungen gehe es nur um die Lust an der gemeinsamen Aufregung. Mehr dazu in meinem Interview mit Jan Philipp Reemtsma auf ZEIT ONLINE (frei lesbar).

Weiterlesen „Jan Philipp Reemtsma ĂĽber Querdenker“

Ist Gewalt okay, um die Menschheit zu retten?

Ist der Einsatz von Gewalt zulässig, um die Klimakatastrophe zu bremsen? Ja, sagt Andreas Malm, Human-Ökologe an der Uni Lund in Schweden und Autor (z.B. Wie man eine Pipeline in die Luft jagt,2020). Und, mehr noch: Gewalt sei nicht nur zulässig, sondern aus taktischen Gründen geboten. In der aktuellen Ausgabe der ZEIT erläutert er seine Position.

Malm argumentiert, dass längst Gewalt eingesetzt werde, sinngemäß »strukturelle«, »systemische«, »institutionelle« Gewalt, der er individuelle Gewaltakte entgegensetzen will (»ausschließlich Gewalt gegen Sachen«, betont er).

Die Argumentation erinnerte mich an ältere Debatten, zum Beispiel in der afrikanisch-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Kwame Ture und Charles V. Hamilton machten in den späten 1960er-Jahren den Begriff des »institutional racism« bekannt. Sie  schrieben in ihrem Buch Black Power. The Politics of Liberation:

When white terrorists bomb a black church and kill five black children, that is an act of individual racism, widely deplored by most segments of society. But when in that same city – Birmingham, Alabama – five hundred black babies die each year because of the lack of proper food, shelter and medical facilities, and thousands more are destroyed and maimed physically, emotionally and intellectually because of conditions of poverty and discrimination in the black community, that is a function of institutional racism.

Ähnlich argumentiert nun Malm, der sagt, »SUVs, Jachten, Vielfliegerei, mehrere Wohnsitze: Diese Arten von Konsum sind Gewaltakte.« Er führt das so aus:

Ich weiß, dass wir üblicherweise anders denken. Die Tötung von George Floyd etwa: Da hat man einen Polizisten, der direkte zwischenmenschliche Gewalt anwendet. Das Problem der Gewalt der Klimakrise ist: Sie geschieht nicht von Angesicht zu Angesicht. Wir werden nie einen achtminütigen Videoclip sehen, wo der Chef einer Ölfirma einen mosambikanischen Bauern erwürgt. Wir haben eine über die Atmosphäre vermittelte Gewalt, und wir sind nach wie vor in dem Denken befangen, dass sich die Verfeuerung von fossilen Brennstoffen in Luft auflöst, folgenlos bleibt, solange wir die Folgen nicht sehen. Und die spielen sich am stärksten fern von den Verursachern ab, im globalen Süden.

Von dieser Analyse muss man nicht zwangsläufig zur Legitimierung von »Gegengewalt« kommen. Ture und Hamilton etwa schlugen in Black Power gewaltfreie Ansätze der Gegenwehr vor. Und als ich irgendwann vor der Pandemie einen Vertreter des deutschen Ablegers von Extinction Rebellion bei einer Diskussionsveranstaltung erlebte, sprach dieser sich entschieden gegen Anschläge und Sabotageaktionen aus, weil er meinte, dass diese moralisch falsch und zudem taktisch unklug seien – wenn Massenmobilisierung das Ziel sei, könne man nicht auf Gewalt setzen, die viele Leute abschrecke.

Andreas Malm sieht das anders. Weiterlesen auf Piqd.de … (wo dieses Posting zuerst erschienen ist).

Wie wird es uns ergehen im Deutschland der Zukunft?

Heute war die Buchpremiere des ersten Romans von Constantin Schreiber, oben links im Bild. Falls Ihnen das Gesicht bekannt vorkommt: Völlig richtig. Der Mann moderiert die 20-Uhr-Nachrichten der tagesschau.

Er ist preisgekrönter Journalist, hat Sachbuch-Bestseller geschrieben – und nun eben einen Roman. Das Buch heißt Die Kandidatin und erzählt von der ersten muslimischen Kanzlerkandidatin in einem heftig polarisierten Deutschland irgendwann Mitte des 21. Jahrhunderts.

Zu den ersten Leserinnen zählt die Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht (Die Linke), die dem Roman – der in echt vielleicht ein bisschen mehr von der Gegenwart handelt, als von der Zukunft – in vielen Punkten zustimmt. Wagenknecht hat neulich ebenfalls ein Buch geschrieben, Die Selbstgerechten, das sich ein bisschen wie das Non-Fiction-Pendant zu Schreibers Zukunftsroman liest.

Ich habe auf Einladung des Hoffmann und Campe-Verlags die Diskussion der beiden moderiert.

Trigger-Warnung: Wir reden über Quoten. Und Feminismus. Und einmal wird #allesdichtmachen erwähnt.

(OK, das mit der Trigger-Warnung war ein Witz.)

Wie wäre es, auf einem veganen Planeten zu leben?

Wo wir gerade so nett über Ökotopien plaudern: In der aktuellen Ausgabe der ZEIT malt sich die Politikjournalistin Merlind Theile aus, wie es wohl wäre, auf einem veganen Planeten zu leben.

Wie sähe unser Alltag aus, wenn es keine Nutztiere und keine tierischen Produkte mehr gäbe. Würde die Zivilisation zusammenbrechen?

Lesen Sie Merlind Theiles Text in der gedruckten ZEIT oder hier auf ZEIT ONLINE (für Abonennt*innen) oder hören Sie das Gespräch, das Theile und ich in dieser Woche für den Podcast »Hinter der Geschichte« aufgenommen haben (frei verfügbar).

Was wissen wir ĂĽber Olaf Scholz und Cum-Ex?

Der Hamburger Warburg-Bank wird vorgeworfen, viele Millionen Euro aus staatlichen Kassen gestohlen zu haben. Trotzdem verzichtete das zuständige Finanzamt darauf, einen großen Teil dieses Geldes zurückzufordern. Wieso? Und was hat der damalige Bürgermeister und heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz damit zu tun?

Im Podcast »Hinter der Geschichte« gibt der investigative Journalist Oliver Hollenstein von der ZEIT mir (und Ihnen, wenn Sie mögen) eine halbe Stunde lang Nachhilfe zum aktuellen Stand des Cum-Ex-Skandals: Was wir wissen. Was wir nicht wissen. Und welche Fragen jetzt im Raum stehen.

Für alle, die so langsam denken wie ich, fasse ich das, was Olli sagt, immer noch mal zusammen. Hilfreich! Und an einer Stelle habe ich mein Lieblingslied von Edith Piaf in die Aufnahme geschummelt, was vielleicht völlig panne ist oder ganz witzig.

Hören kann man das überall, wo es Podcasts gibt: bei Apple, auf Spotify, oder hier auf der Seite der ZEIT.

Ajatollah StrauĂź

Der Vorabdruck einiger Aphorismen und Wehklagen des Schriftstellers Botho Strauß im Feuilleton der ZEIT. Ich bin irritiert, wie dünn das wortgewaltig Vorgetragene inhaltlich ist. Notiert habe ich mir: Bücher gut, Internet doof, Feminismus lästig, Regierung faul, Coronaleugner leider auch doof, was hilft? George lesen.

Interessant ist aber die Stelle über die islamische Theokratie. Bei Houellebecq konnte man ja schon den Eindruck bekommen, er fände die Vorstellung der Unterwerfung Frankreichs unter eine islamische Theokratie gar nicht so schlimm, sondern erstens unvermeidlich und verdient als Folge des laschen Larifaris der westlichen Moderne und zweitens vielleicht sogar ein bisschen verlockend: minderjährige Zweitfrauen in Hello-Kitty-Höschen! (Moment, verwechsle ich hier Autor und Erzähler? Na ja, so halb.)

Botho StrauĂź schreibt jetzt:

»In islamisch theokratischen Ländern wie dem Iran sind es wenige (Gelehrte), die den meisten, den Massen, Weisung geben. Bei uns bestimmt das Populäre das Niveau der politischen Repräsentation, nicht zuletzt, weil Parteizugehörigkeit zwangsläufig Wissen reguliert und im wesentlichen kein außerdemokratisches aus der Tiefe der Zeit zuläßt.«

Parteimitgliedschaft macht dumm, das ist natĂĽrlich Stammtisch-Blabla (siehe oben), aber: Spricht aus diesen Zeilen die Sehnsucht nach einer Gelehrtenherrschaft, notfalls auch einer islamisch theokratischen?

Nicht, dass ich mich hier auf die Position »na, dann geh doch nach drüben!« zurückziehen will, aber das scheint hier die Fantasie zu sein: Ajatollah Strauß.

Reichsflaggen vor dem Reichstag

Am Wochenende stürmten Demonstrierende mit Reichsflaggen (und ein, zwei anderen Fahnen) auf die Treppe vor dem Reichstagsgebäude, wo sie von der Polizei gestoppt wurden. Bilder, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit den Worten kommentierte:

»Reichsflaggen, sogar Reichskriegsflaggen auf den Stufen des frei gewählten deutschen Parlaments, das Herz unserer Demokratie – das ist nicht nur verabscheuungswürdig, sondern angesichts der Geschichte dieses Ortes geradezu unerträglich.«

Wie kam es dazu? Das zeigt dieses erstaunliche Zeitdokument:

(Lesenwert sind in dem Video auch die Kommentare der Zuhausegebliebenen, die teilweise offenbar unter Verwendung des Klarnamens verfasst wurden. Upsi.)

Die Frau, die auf der BĂĽhne spricht, wurde inzwischen als Tamara K. identifiziert und äuĂźert sich zu der Aktion (nicht aber zur Bedeutung der vielen Reichsflaggen) in einem wohl authentischen Video in einem YouTube-Kanal aus der Coronademo-Szene: Weiterlesen „Reichsflaggen vor dem Reichstag“