Was macht ein chinesischer Intellektueller in der deutschen Provinz?

In China ist der Sozialwissenschaftler Xiang Biao eine wichtige Stimme in den Diskursen des jungen, urbanen Milieus. Aber nur die wenigsten dort werden ahnen, dass sich Xiang nicht aus einer Uni in Peking oder Hongkong zu Wort meldet, sondern aus Deutschland, genauer: aus Halle an der Saale. Hier ist er Direktor am Max-Planck-Institut.

Die China-Korrespondentin der ZEIT, Xifan Yang, hat den Intellektuellen in Sachsen-Anhalt besucht. Im Podcast »Hinter der Geschichte« spreche ich mit ihr über seine Rolle als Vermittler zwischen den Welten – und über die Herausforderung, als Exil-Intellektueller frei zu sprechen, ohne ins Fadenkreuz der autoritären Regierung in Peking zu geraten. Klicken Sie bitte hier.

F&D Cartier: »The Never Taken Images«

20220714 - FD Cartier

Wait and See. The Never Taken Images ist der Name einer Arbeit des Künstlerpaars F&D Cartier, die gerade im Museum für Kunst & Gewerbe Hamburg zu sehen ist. 1998 begannen die beiden, alte Fotopapiere zu sammeln — ahnend, dass es sich dabei um Restbestände einer aussterbenden Kunst handelt — und diese als Wandcollagen auszustellen.

Inzwischen haben F&D Cartier tausend Fotopapiere angehäuft, sagen sie, von Herstellern aus 13 verschiedenen Ländern, das älteste davon stamme noch aus dem 19. Jahrhundert.

Die Papiere sind abgelaufen, für Fotoabzüge also nicht mehr zu gebrauchen. Wenn aber Licht auf sie fällt, beginnen die Chemikalien noch zu arbeiten. Je nach Geheimrezeptur der Hersteller nehmen die Papiere dann eine andere Farbe an. Es handelt sich ausschließlich um Papiere für Schwarzweißfotografie, doch im Museum für Kunst & Gewerbe leuchteten sie am vergangenen Donnerstag in Apricot, Violetttönen, Himmelgrau und metallischem Minzgrün.

Als F&D Cartier die Arbeit am Vortag aufhängten, waren die Papiere noch weiß, erzählen sie, das farbige Muster an der Wand ist also zumindest zum Teil ein Zufallsprodukt. Die Formate werden nicht beschnitten, betont das Künstlerpaar, die Papiere nicht bearbeitet. »Wir machen nichts weiter, als sie aus der Verpackung zu nehmen«, sagt Daniel Cartier.

Während der Dauer der Hängung — zu sehen ist die Arbeit noch bis 30. Oktober in der Ausstellung Mining Photography. Der ökologische Fußabdruck der Bildproduktion — dunkeln die Papiere weiter nach, würden aber nie ganz schwarz werden, sagt Françoise Cartier.

Eine erstaunliche Entdeckung. Ich erinnere mich an zwei oder drei Abende in der Dunkelkammer der Volkshochschule (und vor allem an die hässlichen gelben Flecken, die die Entwicklerlösung in meinen Klamotten hinterließ), aber die poetische Qualität der Fotopapiere war mir nicht bekannt.

Was passiert im Übersee-Club?

Überseeclub

Wer sich für die jüngere Geschichte Hamburgs interessiert, kommt am Übersee-Club nicht vorbei. Einige der wichtigsten politischen Reden des 20. Jahrhunderts wurden hier gehalten.

Als etwa der Bürgermeister Paul Nevermann (SPD) Anfang der Sechzigerjahre über »Hamburg an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts« sprach, tat er das in dem Club an der Alster. Sein Nachfolger Klaus von Dohnanyi (SPD) rief hier in den Achtzigern das »Unternehmen Hamburg« aus und Henning Voscherau (SPD) stellte seine Pläne zum Bau der HafenCity im Übersee-Club vor. Olaf Scholz (SPD) und Peter Tschentscher (SPD) haben hier selbstverständlich auch schon gesprochen.

Was die Fragen aufwirft: Wenn Bürgermeister ihre Grundsatzreden halten, wieso ist dann so oft dieser exklusive Club der Gastgeber? Warum reden sie nicht im Rathaus, dem Haus aller Bürgerinnen und Bürgern der Stadt?

Mein Ressortchef Marc Widmann und ich hatten etwas Erklärungsbedarf, als wir neulich den früheren Vorstandsvorsitzenden der Hapag Lloyd AG und heutigen Präsidenten des Übersee-Clubs, Michael Behrendt, auf zwei karge Espressi trafen. Hier geht es zum Interview (für Menschen mit ZEIT-Abo). Oh, oh, oh!

Gegen das Neun-Euro-Ticket

»Die extreme Schnelligkeit der Bahnreise ist etwas Antimedizinisches. In zwanzig Stunden von Paris aus ans Mittelmeer zu fahren, wie man es heute tut, und dabei Stunde auf Stunde derart unterschiedliche Klimata zu durchqueren, ist das Unvorsichtigste, was eine nervlich leidende Person sich vorsetzen kann.«

– Jules Michelet, 1861. (Zitiert aus dem Buch Das Meer, ins Deutsche übersetzt von Rolf Wintermeyer, mehr dazu hier.)

Das Strandbad Wannsee in den 1950er-Jahren

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Das Strandbad Wannsee kannte ich bisher nur aus den Fotos von Will McBride, die unter anderem in seinem Foto-Tagebuch 1953-1961 zu sehen sind (dieses Buch gibt’s leider nur noch antiquarisch). Jetzt hat der Schriftsteller und frühere Verleger Michael Krüger seine Jugenderinnerungen unter dem Titel Das Strandbad veröffentlicht. Gemeint ist jenes Stück Wannsee-Ufer, von dessen weißem Sand er heute noch schwärmt.

Krüger war, so vermutet er, ungefähr zeitgleich mit Conny Froboess dort (die sang 1951: »Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nüscht wie raus nach Wannsee!«), aber offenbar noch vor Will McBride. Der fotografierte laut seinem Biografen Ulf Erdmann Ziegler nämlich erst zwischen 1956 und 1959 im Strandbad.

Schade, denn die Stimmung von Krügers Text und von McBrides Fotos passen gut zusammen. Beide veranschaulichen die tastende, suchende Westanbindung der Nachkriegsjugend West-Berlins.

Michael Krüger muss nicht viel von alten Nazis schreiben um zu vermitteln, welcher Ton damals an der Schule herrschte, wo Wallensteins Truppenbewegungen gepaukt wurden. Am Nachmittag holte er die Bildung nach, die er brauchte: Im Strandbad und mit den Büchern von Hemingway, Faulkner und Camus.

»Ich verfolgte zu jener Zeit das Projekt, mich als Fatalist und Existenzialist auszubilden, und ging selbstverständlich davon aus, vom sozialen Leben ferngehalten und von Mädchen übersehen zu werden«, schreibt Krüger. »Wenn ich dann gelegentlich einen Schritt weiter ging und vom ›Geworfensein‹ faselte, was meinen Freund Rudi zur Weißglut brachte, der auf der Geburt bestand – ›Man wird geboren, nicht geworfen‹ –, war es meistens mit dem Interesse der Mädchen vorbei. In jener Zeit hatten in West-Berlin überspannte Typen mit durchtrainiertem Weltschmerz wenig Chancen.«

Der lakonische Ton, die unaufdringliche Ironie – ich habe das gerne gelesen. Das Buch erscheint in der 5plus Edition in kleiner Auflage und wird in ausgewählten Läden verkauft (etwa bei Felix Jud in Hamburg).

Mehr noch als die Handnummerierung hätte ihm ein etwas strengeres Lektorat gut getan: Ein paar Streichungen hätten den Text gestärkt, da wo Krüger im abfälligen Ton über Jugendliche einer Gegenwart schreibt, die er weder verstehen kann, noch will. Der Schriftsteller fühlt sich wohler in seinen Erinnerungen an die 1950er und an den weißen Sand des Strandbads. Wer könnte es ihm verübeln.

Wie un/männlich ist Bodybuilding?

20220704 - Bodybuilding

Im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung klagt der Soziologe Walter Hollstein darüber, dass kleine Jungs nicht mehr Krieg spielen dürfen, obwohl die Skills, die dabei eingeübt werden, durchaus noch gebraucht würden, siehe Ukraine. Naaajaaaa …

Während ich den Essay bestenfalls mittelüberzeugend fand (ist meine Paraphrasierung der Hollstein’schen Thesen zu ungnädig? Lesen Sie sein Feuilletonstück hier), war ich begeistert von der Bebilderung dieser Seite. Schon eine so konservativ und streng gestaltete Zeitung wie die NZZ aufzuschlagen und da dieses campy Foto von Arnold Schwarzenegger während seiner Bodybuilder-Jahre zu finden, ist eine Überraschung und ein Vergnügen.

Überhaupt geht die NZZ fantastisch mit Fotos und anderen Bildelementen um, findet starke Motive, räumt ihnen auf der Zeitungsseite viel Platz ein und pflegt eine teils freie, assoziative Bildauswahl, die den Text nicht bloß illustriert, sondern ihn mit einem visuellen Aspekt als gleichberechtigten Gegenpart bereichert. Ich kenne keine deutsche Tageszeitung, in der das ähnlich gut gemacht wird. Chapeau ans schweizerische Stilbewusstsein.

Quatsch ist allerdings die Bildunterschrift: »Hier ist von ›soft maleness‹ keine Spur: Arnold Schwarzenegger bei einer Performance im Whitney Museum in New York, 1976«. Dass der Bodybuilder sich in einem Kunstmuseum zur Schau stellt, quasi als lebendes Exponat, hätte den Texter der Bildunterschrift stutzig machen können. Seit wann ist es männlich und hart, sich wie ein Kunstwerk zu präsentieren?

In einer anderen Zeitung, der Berliner Jungle World, erschien neulich ein Artikel über das Bodybuilding, der sicherer in seinem Urteil war. Dort schreibt Anton Bochser von der – eben! – »unmännlichen Zeigelust«, die Performern wie Arnold Schwarzenegger innewohnte. Bochser meint das wohlwollend, sinngemäß: Das Bodybuilding sprengte das Korsett der hegemonialen Männlichkeitserwartung und wirkte in diesem Sinne emanzipatorisch. Harte Muskeln, softe Männlichkeit.

Das ist doch nun mal eine interessante These. Wenn Sie heute also nur einen Essay über Männlichkeit/en lesen, dann doch bitte diesen.

Fake Lips Done Cheap 👄👄

Das Aufspritzen von Lippen ist in den vergangenen Jahren zu einem Massenmarkt geworden, sagt der freie Journalist Tom Kroll, und vor allem über Instagram wird der Eingriff beworben. Nicht alle, die ihn anbieten, dürfen das – denn rechtlich braucht man ein Medizinstudium oder mindestens eine Heilpraktiker-Ausbildung, um Spritzen setzen zu dürfen.

Etliche Anbieterinnen, die auf Instagram mit Billigpreisen werben und den Eingriff in Hinterzimmern von Frisör- oder Beauty-Salons vollziehen, agieren illegal, begehen eine Straftat und riskieren die Gesundheit ihrer Kundinnen. Tom Kroll hat zum Schwarzmarkt der illegalen Schönheitseingriffe recherchiert und darüber für den Hamburg-Teil der ZEIT berichtet.

Im Podcast der »Freunde der ZEIT« habe ich mit ihm darüber gesprochen, was er herausgefunden hat. Hier gibt es die ganze Episode kostenlos zu hören.

Kill your TV

»You sound pretentious in the West when you say you love Homer and read the ›Iliad‹ as a child, but in communist Albania there were only 15 minutes of TV each day, we didn’t have cartoons, all we had was Homer.«

Das sagte Lea Ypi, Autorin des wunderbaren Memoir Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, bei der heutigen Buchpräsentation im Gespräch mit Peter Neumann im The New Institute.

Was die Frage aufwirft: Wer in Westeuropa schon als Kind die Ilias las, der durfte vermutlich auch nicht länger als täglich 15 Minuten fernsehen?

Ach! Welch herrliches Gefühl! 💦

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Im Jahr 1969 brachte der Beate-Uhse-Versand einen neuartigen »Damen-Vibrator« den Markt. »Die zarten Schwingungen dieses handlichen Massagestabes regen die Durchblutung an«, hieß es in der Produktbeschreibung im Katalog. (Siehe Beweisfoto.)

Vibratoren gab es damals bereits seit hundert Jahren und sie wurden stets genau so beworben: als Gesundheitsprodukte. Etwas anderes wäre verboten gewesen. Denn in der Bundesrepublik drohte Paragraf 184 des Strafgesetzbuchs allen mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe, die »unzüchtige Schriften« verbreiteten oder »Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind«, anpriesen. (Das Gesetz fiel erst einige Jahre später.)

Der »Damen-Vibrator« aber war ein Novum, schreibt die Hamburger Historikerin Nadine Beck. Bis dahin waren Vibratoren Unisex-Geräte und hatten eher die Form eines Haarföns. Nun wurden sie plötzlich phallisch und als Produkte »für Damen« beworben. Die Dame im Katalog hält sich den Vibrator zwar ins Gesicht, doch wofür das Ding eigentlich benutzt werden sollte, war nicht mehr zu übersehen — und ebnete den Weg für all die »Magic Wands« und »Womanizers« von heute.

Mehr zu Nadine Beck und ihrer Forschung zur Geschichte der Sextoys habe ich hier aufgeschrieben (für Menschen mit ZEIT-Abo).