Ein Jahr seit dem russischen Überfall

Russland

Ich kam heute am Generalkonsulat der Ukraine in Hamburg vorbei, Mundsburger Damm, Alsterufer. Es war ein kühler, sonniger Tag — genau wie bei einem früheren Besuch, fiel mir ein.

Damals hatte man hier den Asphalt der Straße kaum sehen können vor Menschen und Solidaritätsfahnen. Das war Anfang März 2022, ich habe noch einen Schnappschuss davon auf dem Handy gefunden. Links, das Haus mit der Fahne, ist das ukrainische Generalkonsulat.

Auf dem Rückweg fuhr ich heute am Feenteich vorbei, dort steht ein zweites Generalkonsulat, das russische. Ein stummer Protest auf der Straßenseite gegenüber: Jemand hat Luftballons in den Nationalfarben jenes Landes aufgehängt, in dem russische Raketen seit bald einem Jahr wieder und wieder in Wohnhäuser einschlagen und in dem russische Soldaten morden. Polizeiwagen parken hier, man könnte fast denken, auch sie trügen diese Farben.

Nur etwas mehr als ein Kilometer trennt die beiden Häuser, etwas weniger als ein Jahr die beiden Fotos. Es ist in der Zwischenzeit doch ziemlich still geworden in Hamburg.

Re: »Kulturpolitik als Sicherheitspolitik«

»Kulturpolitik ist Sicherheitspolitik«, sagte Claudia Roth (Grüne), die Staatsministerin für Kunst und Kultur, vor einigen Monaten. Aber das war vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, vor der anhaltenden Bombardierung der Städte dieses Landes und vor der allem Anschein nach teils wahllosen, teils gezielten Ermordung von Zivilisten durch die russische Armee.

Unmittelbar nach dem russischen Überfall beschloss der Bundestag, zusätzliche 100 Milliarden Euro in die Sicherheit zu investieren. Jetzt wurde bekannt, dass an der Außenkulturpolitik derweil gespart wird.

In einer Pressemitteilung des Goethe-Instituts heißt es:

Für 2023 sieht der Haushaltsentwurf der Bundesregierung eine Kürzung der institutionellen Förderung des Goethe-Instituts auf 224 Millionen Euro vor, das sind 26 Millionen Euro weniger als noch 2021. Schon jetzt haben die 2022 erlittenen Kürzungen bewirkt, dass viele Institute im Ausland ihre Kulturarbeit bis Ende des Jahres praktisch einstellen müssen.

Die Inflation und steigenden Heizkosten kommen noch hinzu. Präsidentin Carola Lentz beteuert zwar, dass das Goethe-Institut »für die Bundesrepublik ein wesentliches Instrument internationaler Verständigung« sei, und wird in der Pressemitteilung mit den Worten zitiert:

Wir befinden uns allerdings wahrlich in einer für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg einmaligen Situation. Angesichts neuer geostrategischer Blockbildungen sowie enger werdender Freiheitsräume kommt der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eine noch wichtigere Rolle zu als bisher: Um für Deutschland als attraktiven Standort zu werben, um Kooperationen mit herausfordernden Partnerländern zu erhalten, um international die Freiräume für künstlerisches Experiment und offene Debatten zu verteidigen.

Doch trotz dieser Rhetorik – »Geostrategie«, »Blockbildung«, »verteidigen« – sprechen die Zahlen für sich: Kulturpolitik ist jetzt offenbar keine Sicherheitspolitik mehr.

Nachtrag, 14.9.2022: Die NZZ berichtet über das drohende Ende des vom Auswärtigen Amt finanzierten Online-Medius Qantara, das sich für den Dialog zwischen Deutschland und der islamischen Welt einsetzt: hier.

Soll man jetzt Anna Netrebko das Singen verbieten?

20220304 - Anna Netrebko

In München wurde in dieser Woche Valery Gergiev als Chefdirigent der Philharmoniker entlassen, in Hamburg hat die Opernsängerin Anna Netrebko ihren Auftritt in der Elbphilharmonie Hamburg kurzfristig abgesagt.

Beide gelten schon länger als Freunde Wladimir Putins und hatten sich zuvor nicht deutlich von ihm und seinem Überfall auf die Ukraine distanziert.

Dürfen wir von russischen Künstlerinnen und Künstlern politische Bekenntnisse einfordern? Oder droht hier eine neue Form von »Cancel Culture«, die Kultur unnötig politisiert und Künstlerinnen und Künstler erpresst?

Darüber habe ich im Podcast »Hinter der Geschichte« mit Florian Zinnecker gesprochen. Er hat im aktuellen Feuilleton der DIE ZEIT berichtet, wie einige russische Musikerinnen und Dirigenten um eine Haltung zum Angriffskrieg ihres Heimatlandes ringen.

Unser Gespräch: Überall, wo es Podcasts gibt oder hier.

Pussy Riots düsterer Vorfahre: Über Emmanuel Carrères bemerkenswerte Biografie des russischen Provokateurs Eduard Limonow

Abb.: Die Flagge von Eduard Limonows (in Russland verbotener) Nationalbolschewistischen Partei (via Wikimedia)

Zehn Jahre vor Pussy Riot forderte den russischen Staat schon einmal jemand heraus, den man im weitesten Sinne als Punk bezeichnen kann und der zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurde – aber ohne darüber zum Helden der westlichen Liberalen, Popstars und Journalisten zu werden. Es war der Schriftsteller, Soldat und Provokateur Eduard Sawenko, genannt Limonow. In gewagten Protestaktionen forderten er und seine Anhänger, die Nationalbolschewisten, nicht die Meinungsfreiheit oder die Trennung von Staat und Kirche, sondern die Rückkehr von Stalinismus und Gulag. Womöglich meinten sie das ernst. (weiterlesen auf Spiegel Online)