Hier kommt das neue ’68 (angeblich): Jón Gnarr und Marina Weisband haben Bücher geschrieben

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Zwei Politiker haben Bücher veröffentlicht, die ein bisschen Biografie sind und ein bisschen Manifest. Es handelt sich um Jón Gnarr und Marina Weisband. Der eine ist Komiker und Bürgermeister von Reykjavík, die andere prominentes Mitglied der deutschen Piratenpartei – und beide neuerdings auch Autoren im Tropen-Verlag. (Gnarrs Buch erscheint am kommenden Freitag, Weisbands ist bereits seit 2013 erhältlich.)

Gestern Abend stellten sie ihre Bücher im Körber-Forum in Hamburg vor. Der Abend stand im Zeichen eines neuen ’68. Dafür, so sagte die Moderatorin sinngemäß, stünden Jón Gnarr, Weisbands Piraten und die Occupy-Bewegung. Sei ja auch überfällig, sagte Richard David Precht, der ebenfalls auf dem Podium saß. Hm.

Haben die Piraten bei ihrem Kampf um Stühle im Berliner Abgeordnetenhaus und im Bundestag wirklich so viel gemein mit den Occupy-Aktivisten, deren Verweigerung gegenüber dem politischen System so weit ging, dass sie nicht mal bereit waren, politische Ansprüche zu formulieren? Das wurde leider nicht besprochen.

Sind Jón Gnarr und seine komödiantische Beste Partei womöglich spezifisch isländische Phänomene? Precht vertrat diese Ansicht mit einigem Nachdruck, was dann aber nicht in eine Diskussion mündete, ob und was man als Kontinentaleuropäer von Gnarrs Erfolg bei der Bürgermeisterwahl in Reykjavík  lernen könnte.

Einiges war an der Diskussion gestern Abend anders, als es von den Sitzungen des Jahres 1968 überliefert wird: Es wurde zum Beispiel nicht geraucht. Und inklusive der Moderatorin und der zwei Übersetzerinnen saßen doppelt so viele Frauen wie Männer auf dem Podium. Das sind Fortschritte, keine Frage.

An anderen Stellen ähnelte die Diskussion dann aber doch den Karikaturen von ’68: Man duzte sich, agitierte gegen einen gemeinsamen Feind, der keine Redezeit bekam (die »Autohändler« der Politik, O-Ton Gnarr), ignorierte die realen Verhältnisse draußen vor der Tür (Ungleichheit, Flüchtlingskrise, Klimawandel) und wähnte sich ganz dicht dran an einer epochalen Umwälzung des politischen Systems, die vermutlich niemals eintreten wird.

Denn die Demokratie müsse sehr bald sehr viel demokratischer werden, da waren sich alle einig. Bloß zu welchem Zweck? Das blieb leider ungefragt. Ein bisschen schade ist das schon.

Mehr dazu in meiner Veranstaltungskritik auf Spiegel Online.