Faktenwissen und Teilhabe

Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD) verteidigt im Gespräch mit Moritz Baumann vom Newsletter Table.Bildung das Kerncurriculum, das Bestandteil seiner aktuell laufenden Reform der Bildungspläne ist:

Überall […] werden von jungen Erwachsenen Lese-, Rechtschreib- und Mathematikkenntnisse sowie Grundkenntnisse über unsere Welt erwartet. Da geht es um konkretes Faktenwissen, das aber bisher kaum in unseren Bildungsplänen berücksichtigt ist – mit dem hanebüchenen Argument, das sei Pädagogik von gestern. Das Ergebnis ist ein Skandal: Natürlich verfügen Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern über dieses Faktenwissen. Aber wir haben in Hamburg 40 Prozent Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, die dieses Privileg nicht haben. Es empört mich, dass privilegierte Milieus, die sich in der Bildungspolitik engagieren, das Faktenwissen in der Schule zurückdrängen wollen. Sie riskieren damit, dass Schüler aus bildungsfernen Familien nach der Schule weder ein Bewerbungsgespräch bestehen noch eine Nachrichtensendung verstehen.

Rabe argumentiert nicht im Sinne einer (christdemokratischen) »Leitkultur«, sondern sozialdemokratisch, mit Chancengleichheit und Teilhabe.

Ähnlich argumentierte in den USA etwa Eric Liu, der »kulturelle Alphabetisierung« und Teilhabe zusammendenkt (in der Tradition von E.D. Hirsch, dessen Überlegungen hierzulande bisher offenbar kaum eine Rolle spielten. Why?)

Das ganze Interview gibt es hier (Aboschranke).

Kulturelle Bildung als Machtfaktor: Eric Lius Essay How to Be American

Vom »Ende des weißen Amerikas« ist bereits seit einigen Jahren die Rede. So hat zum Beispiel Hua Hsu Anfang 2009 anlässlich der Vereidigung von Barack Obama im Atlantic ein Essay unter diesem Titel veröffentlicht, in dem er über das nahende Ende der kulturellen Hegemonie der europäisch-stämmigen Amerikaner spekuliert.

Eine wichtige Ergänzung zu dieser These ist jetzt in der Zeitschrift Democracy erschienen: How to Be American. Der Autor Eric Liu korrigiert in seinem Essay die Annahme, dass mit einer sich verändernden Demographie auch notwendigerweise eine Veränderung der Machtverhältnisse im Land einhergehe:

The new America, where people of color make up a numerical majority, is not a think-tank projection. It may well be the condition of the people born in this country this very year. But an America where nonwhites hold a majority of the power in civic life is much farther off.

Ein Faktor, der Immigranten (und andere Unterprivilegierte) von der gesellschaftlichen Teilhabe ausschließe, sei ihre mangelnde »kulturelle Alphabetisierung«.

Dieser Begriff beschreibt bei Liu das Unwissen über den historischen und kulturellen Kanon eines Landes ebenso wie das Unvermögen, codierte Ausdrücke (Redensarten, Referenzen, … ) zu erkennen und korrekt zu deuten.

Kulturelle Bildung, argumentiert Liu sinngemäß und frei nach Bourdieu, ist ein Machtfaktor:

If you are an immigrant to the United States […] you have a single overriding objective shared by all immigrants at the moment of arrival: figure out how stuff really gets done here.

That means understanding what’s being said in public, in the media, in colloquial conversation. It means understanding what’s not being said. Literacy in the culture confers power, or at least access to power. Illiteracy, whether willful or unwitting, creates isolation from power.

Folgt man dieser Überlegung, ist es kontraproduktiv, den Kanon der »toten, weißen Männer« zerkloppen zu wollen. Solange er eine Zugangsbarriere zur gesellschaftlichen Teilhabe darstellt, muss man ihn lehren.

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