Piqd: Ist das #vanlife die neoliberale Hölle?

Wenn man sich die mit #vanlife vertaggten Fotos auf Instagram ansieht, wirkt es so, als wären Besitzer von Kleinbussen und Kastenwagen eigentlich das ganze Jahr über im Urlaub. Immer unterwegs auf irgendeinem idyllischen Bergpass, immer am Campen auf irgendeinem menschenleeren Strand. Doch das ist wohl eine Täuschung.

Denn was der Journalist Werner van Bebber im Tagesspiegel über zwei Menschen schreibt (Aboschranke), die tatsächlich ihr »life« im »van« verbringen, die den festen Wohnsitz also dauerhaft gegen ein Leben im Kleinbus eintauschten, klingt ganz anders:

Zeitgewinn – das war für ihn ein Motiv, in den Wagen zu ziehen. Seine Arbeitstage können lang sein. Da wollte er nicht noch stundenlang fahren, um in irgendeine Wohnung zu gelangen, die er früh am nächsten Morgen verlassen würde, um abermals zur Arbeit zu fahren.

Und:

Mit dem Van wechselt man den Lebens- und Arbeitsort von einer auf die nächste Stunde, von der Stadt aufs Land und zurück. [Er] sagt, für seine Auftraggeber sei das ein Vorteil: Er sei immer vor Ort. Wenn er gebraucht werde, müsse man nur an die Tür klopfen.

Und:

Sie denkt daran, das Leben im Van fortzusetzen, bis sie ›nicht mehr Auto fahren kann‹. Ihre Zukunft sieht sie positiv, sie findet es gut, dass sie dort arbeiten kann, wo ihre Kunden sind.

Das alte Versprechen von »Digitaler Bohème«, Freiberuflichkeit und remote work (Hey, mit Deinem Laptop kannst Du arbeiten, wo Du willst! Im Café, cool! Oder sogar am Strand! Und kein Chef kann Dir was!) kehrt sich hier ins Gegenteil um.

Der »Er« im Artikel fährt als Freelancer den Jobs hinterher und ist immer ansprechbar, man braucht nur klopfen. Die »Sie« tut’s auch und will es fortsetzen, bis sie tot auf den Beifahrersitz kippt. Oder so ähnlich.

Die Protagonist*innen dieses Artikels erscheinen als der neoliberale Traum aller Arbeitgeber: Flexibel, belastbar und stolz drauf. Nomadland lässt grüßen.

Weiterlesen auf Piqd.de (wo dieser Text zuerst erschienen ist).

Piqd: Luxuswohnen im Armenhaus

Immobilien, die einst Schauplätze von Gewaltverbrechen waren, werden offenbar oft unter Marktwert verkauft.

Zumindest lese ich das immer mal wieder in Berichten aus den USA. Von dort heißt es, Preisnachlässe von bis zu 15 Prozent könnten nötig werden, um Käufer von historisch belasteten Häusern zu überzeugen, sogar von bis zu 50 Prozent, wenn es um Schauplätze von Mordfällen mit überregionaler Bekanntheit geht.

Möglicherweise sind Amerikaner*innen nicht nur gläubiger als die Bürger*innen anderer westlicher Staaten, sondern auch abergläubischer. Denn international ist das wohl nicht die Regel.

In Europa gibt es jedenfalls nicht wenige historisch belastete Gebäude, die mit großem Kostenaufwand aufgehübscht werden. Ein aktuelles Beispiel ist der Hamburger Stadthauskomplex, in dem einst die Gefangenen der Gestapo festgehalten und gefoltert wurden. Heute ist ein Investor bemüht, hier ein Luxus-Shopping-Areal zu schaffen, mit Boutique-Hotel und Designerläden.

Über eine Immobilie mit dunkler Vergangenheit in London berichtet David Segal in dem hier gepiqden Artikel aus der New York Times. Dort sollte ein altes Gemäuer, das in viktorianischen Zeiten als Armenhaus genutzt wurde, planiert werden, damit an seiner Stelle Luxuswohnungen entstehen können.

Weiterlesen auf Piqd.de (wo dieser Text zuerst erschienen ist).

Genetik als Geschichtsforschung

Manchmal finden die »zwei Kulturen« doch zusammen: Der Schriftsteller Douglas Preston berichtet im New Yorker (December 14, 2020) über Genetik als Hilfswissenschaft der Geschichtsforschung.

Es ist ein faszinierender Text darüber, wie die naturwissenschaftliche Methode die Geisteswissenschaft voranbringen kann, weil sich Spuren von Kultur und Geschichte in unsere Körper einschreiben und sogar vererbt werden.

Preston dazu:

Hidden in the human genome is evidence of inequality, the displacement of peoples, invasion, mass rape, and large-scale killings. Under the scrutiny of science, the dead are becoming eloquent.

Man könnte auch die positiven Aspekte betonen, denn in Knochen und Genom finden sich auch Hinweise auf Migration, Handel und kulturellen Austausch.

Aber das vielleicht einprägsamste Faktum dieses Artikel ist ein bedrückendes:

On average, a Black person in America has an ancestry that is around eighty percent African and twenty per cent European. But about eighty per cent of that European ancestry is inherited from white males – genetic testimony to the widespread rape and sexual coercion of female slaves by slaveowners.

Hier geht es zu Douglas Prestons Text.

Corona: The virus vs. the world

[T]he virus is in nearly every country and will surely spread. There is no vaccine. There is no cure. A very rough guess is that, without a campaign of social distancing, between 25% and 80% of a typical population will be infected. Of these, perhaps 4.4% will be seriously sick and a third of those wil need intensive care. For poor places, this implies calamity.

Economist: The next calamity (26 March 2020)

Warum Paris und New York schrumpfen

Wenn in den vergangenen Jahren von schrumpfenden Städten die Rede war, dann ging es oft um Orte, die von massiver Deindustrialisierung betroffen waren.

Um Detroit, zum Beispiel, eine Stadt, die seit den 1950er-Jahren mit dem Niedergang der örtlichen Automobilindustrie dramatisch an Einwohnern verloren hat. Die Harvard Business Review schrieb 2013: »Detroit is now by most measures the poorest big city in the country.« Einst kamen die Leute in die Stadt, weil es dort Jobs gab. Nun gab es keine Jobs mehr, und sie zogen weg. Oder blieben, wenn ihnen das Geld fehlte, wegzuziehen. (Hier geht es zum Artikel.)

Oder um frühere Industriezentren in Ostdeutschland, etwa Eisenhüttenstadt, das in der jungen DDR als Planstadt aus dem Boden gestampft worden war und mit dem Anschluss an die Marktwirtschaft im selbigen nahezu wieder verschwunden ist:

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Bevölkerungsentwicklung Eisenhüttenstadt, via Wikipedia

OK, ich übertreibe. Aber eine Halbierung der Bevölkerung über wenige Jahrzehnte, mit allen Konsequenzen für kommunale Infrastruktur (Schulen, öffentlicher Nahverkehr), Kulturleben, Einzelhandel  – das ist krass.

Natürlich zeichnete sich ab, dass die Bevölkerungsentwicklung in Westeuropa und den USA insgesamt abnehmen würde, früher oder später also auch andere Städte betroffen wären (siehe dazu das von der Kulturstiftung des Bundes finanzierte Projekt Shrinking Cities).

Aber dem stand relativ lange die breit rezipierte Theorie der »Kreativen Klasse« entgegen. Ihr Erfinder, der Ökonom Richard Florida, argumentierte sinngemäß, dass Städte, solange sie nur attraktiv und hip genug seien, schon genug neue, kreative Bewohner anziehen würden. Und das mit den Jobs würde sich dann schon regeln.

Empirisch hat sich die These nicht bestätigt (siehe dazu zum Beispiel diesen Text von Joel Kotkin). Und tatsächlich schrumpfen gerade zwei der attraktivsten, hippsten Städte der Welt: Paris und New York.

Die Financial Times berichtet:

The number of people living in the Paris departement, or administrative area, dropped by an average of 11,900 people a year between 2011 and 2016, the most recent figures available, according to the national statistics agency. […] It is a sharp contrast with the urban renaissance that has taken place in many of the world’s major cities over the past 20 years, but Paris is not alone. New York City shed a net 39,500 people in 2018 and 37,700 the year before, reversing the previous upward trend.

New York is not quite Eisenhüttenstadt, aber die Entwicklung ist bemerkenswert, gerade für die auch in Deutschland laufende Debatte um Lebenshaltungskosten und Mietendeckel. Denn der Grund für diese Entwicklung liegt offenbar in den explodierenden Miet- und Kaufpreisen, die Familien aus den Städten drängen, so dass Wohnungen vermehrt von wohlhabenden Singles bewohnt werden … oder von Airbnb-Gästen.

Hier geht es zum gesamten Text (den ich auf der Facebookseite von Danilo Scholz entdeckt habe).

P.S.: Der Text in der Financial Times beginnt mit einer jungen Pariserin, die öffentlich erklärte, warum sie mit der Stadt Schluss macht – und damit einen Nerv getroffen hat. Den passenden Song für New York gibt es natürlich auch schon längst, von dem wunderbaren James Murphy a.k.a. LCD Soundsystem:

Die Vernunft der Vortragsredner

Ist Greta Thunbergs Reise mit einem Segelboot über den Atlantik Unsinn, wie manche Leute gerade sehr energisch behaupten?

Nicht unsinniger als das, was sonst Alltag ist, schreibt Peter Unfried in der taz:

Indirekt bringt die Reise zutage, was wir für Vernunft halten. Etwa: Ergibt es Sinn, für einen 20-­Minuten-Vortrag irgendwohin zu fliegen? Selten. Die meisten fliegen dennoch. Man weiß ja nie. Niemals würde man für einen sinnlosen Vortrag zwei Wochen lang segeln. Also redet man sich ein, dass es vernünftig ist, sinnlos zu fliegen. Das sind wir.

Den ganzen Text gibt es hier (kostenlos).