Claude LĂ©vi-Strauss: Wir sind alle Kannibalen (Besser als ausgedacht #4)

Claude LĂ©vi-Strauss war bereits 80 Jahre alt, als er anfing, fĂŒr die italienische Zeitung La Repubblica zu schreiben. Zwischen 1989 und 2000 verfasste er insgesamt 16 Essays, mal einen, mal zwei pro Jahr. 2017 erschienen die deutschen Übersetzungen im Suhrkamp-Verlag: Wir sind alle Kannibalen. Der Titel ist schon mal super.

Die AnlĂ€sse der Texte von CLS sind oft aktuelle Ereignisse, die zufĂ€llig wirken und teilweise banal: eine Ausstellung, ein JubilĂ€um, der Rinderwahn, eine Trauerrede bei der Beerdigung von Lady Di. CLS sucht davon ausgehend Muster und Ähnlichkeiten, die Kulturen und Gesellschaften verbinden, die tausende Kilometer — und manchmal auch tausende Jahre — auseinanderliegen.

Er arbeitet assoziativ, was seine Texte oft abenteuerlich macht (etwa, wenn er in den Hypothesen der Quantenphysik alte indianische Mythen wiedererkennt oder meint, die Form der mittelalterlichen Königskrone habe jene der Explosion von Atombomben vorweg genommen). Und manchmal irre (im Titelessay behauptet CLS, Organtransplantationen seien eine Form des Kannibalismus. Äh, what? Auch die relativierende Haltung zur Beschneidung von Frauen finde ich problematisch, aber so ist das eben beim ungeschĂŒtzten Denken und Schreiben).

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Besser als ausgedacht (3): Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit

Vergesst die Fuck-Up Nights, vergesst die #fail-Meme — die krasseren Geschichten vom Scheitern gibt’s bei Stefan Zweig.

In seinem Buch Sternstunden der Menschheit aus dem Jahr 1927 (dass der Titel heute wie ein Witz klingt, ist auch ein bisschen die Schuld von Rocko Schamoni) erzĂ€hlt er fĂŒnf auf wahren Tatsachen beruhende Geschichten von spektakulĂ€ren Niederlagen.

Zum Beispiel die von Robert Scott, der als erster Mensch den SĂŒdpol erreichen wollte, nur um nach langen Entbehrungen vor Ort festzustellen, dass er es bloß als zweiter geschafft hatte. Besonders miese Pointe: Scott und alle seine Begleiter starben auf dem RĂŒckweg. Stefan Zweig findet das faszinierend, fĂŒr ihn ist Scott einer der ganz großen Helden.

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Besser als ausgedacht (2): Paris, Mai ’68 von Anne Wiazemsky

Heute vor 50 Jahren in Paris: Barrikaden. Generalstreik. Ehekrise. Paris, Mai ‘68 heißen die Memoiren der französischen Schauspielerin Anne Wiazemsky, die jetzt in deutscher Übersetzung im Wagenbach-Verlag erschienen sind.

Die ErzĂ€hlung beginnt da, wo andere aufhören wĂŒrden: Anne und der Ă€ltere Regisseur Jean-Luc (Godard) sind frisch verheiratet. Sie haben sich eine Wohnung im Quartier Latin gekauft. Ihre Schauspielkarriere nimmt Fahrt auf. Es ist FrĂŒhling, noch dazu „ein prĂ€chtiger, so strahlend und warm, wie ich noch keinen erlebt hatte“. Abblende, Happy End, Abspann.

Nicht ganz. Denn dann gerĂ€t Anne eines Abends auf dem Nachhauseweg in eine Straßenschlacht zwischen Studenten und Polizisten: Die Ereignisse des Mai 1968 platzen in ihr Leben.

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Besser als ausgedacht (1): Future Sex von Emily Witt

War jemals ein Buch mit einem so schlimmen Titel / Unterzeile / Cover so toll wie Future Sex von Emily Witt? Mir fÀllt keins ein.

In dieser Mischung aus Reportage und Memoir, die vielleicht nur Amerikanerinnen und Amerikanern gelingt, erzĂ€hlt Emily Witt aus ihrem Leben als leicht neurotischer Ü30-New-Yorkerin, die nach einer gescheiterten Beziehung und aus Angst vor der sexuellen Unvermittelbarkeit dorthin flieht, wo bisher noch jede/r eine zweite Chance bekommen hat: an die Westcoast.

Es folgt ein Leben und Forschen und Schreiben zwischen Start-Up-Yuppies, Althippies und Polyamoristen, mit OkCupid, Fortschrittsglauben und Feminismus fĂŒr Besserverdienende, mit sehr gutem Gras und sehr hohen Mieten und Minimalismus als Lifestyle, mit „consent“ als letztem moralischen Gebot (c.f. Eva Illouz), mit Burning Man, Paleo-Superfood, Orgasmischer Meditation und mit Google-Bussen, die einen kostenlos zur Arbeit fahren.

Mark Greif, einer der GrĂŒnder der Zeitschrift n+1, schreibt, Future Sex sei „mit Abstand das beste Buch ĂŒber weibliche SexualitĂ€t dieses Jahrhunderts.“ Mag sein. Es ist zumindest besser als Nora Bossongs Ă€hnlich angelegtes Buch Rotlicht. Trotzdem halte ich Greifs EinschĂ€tzung fĂŒr eine Untertreibung.

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