Das Wrack von Norderney. Oder: Ironien der Geschichte

edf

Im Dezember 1967 lief am östlichen Ende der Nordsee-Insel Norderney ein Heringslogger auf, ein Schiff, mit dem damals Hochseefischerei betrieben wurde. FĂŒr die Bergung wurde historischen Schilderungen zufolge eine Belohnung ausgelobt und so beschloss der KapitĂ€n eines Muschelbaggers, den Logger freizuschaufeln. Er lief dabei selbst auf. (Ironie #1.)

WĂ€hrend der Heringslogger bei einem spĂ€teren Hochwasser befreit werden konnte, steckt das verhinderte Rettungsschiff bis heute fest. Inselkarten verzeichnen es, TouristenfĂŒhrer empfehlen es: DAS WRACK. Aus dem verunglĂŒckten Schiff wurde eine der wichtigsten SehenswĂŒrdigkeiten Norderneys. (Ironie #2.)

Wrack-Norderney-Oskar-Piegsa-2020

Happy End? Nee. Denn lĂ€ngst geht das Schiff ein zweites Mal unter, diesmal nicht im Wasser, sondern im Sand. Auf Fotos aus den frĂŒhen 1990er-Jahren ragt es noch meterhoch aus dem Inselboden, inzwischen ist deutlich weniger davon zu sehen und wenn es so weitergeht, ist es in noch mal 30 Jahren wohl ganz begraben. (Ironie #3.)

Es wĂŒrde wohl keine/r leugnen, dass sich eine Wanderung zum Wrack lohnt. Aber nicht unbedingt wegen des Wracks, sondern wegen der Wege dorthin, die durch die Landschaften der unbebauten OsthĂ€lfte der Insel fĂŒhren.  Und tatsĂ€chlich: Der gestrige Hinweg, sechs Kilometer auf unbefestigten Wegen durch die DĂŒnen, war schön.

Strand im Osten Norderneys

Der RĂŒckweg aber, sieben Kilometer ĂŒber den scheinbar endlosen Strand, wo uns der feine Sand um die Knöchel floss und kaum ein Mensch zu sehen war, nichts als Wind und Meer und Sand und Weite, war erhaben. (Ein dritter Weg, die SĂŒdroute durch die Salzwiesen, ist wegen der Brutzeit gerade gesperrt.)

»UnberĂŒhrte Natur«, schwĂ€rmen einige Online-Rezensionen. Was selbstverstĂ€ndlich Quatsch ist. Allein schon wegen der Wegmarken und Fußspuren sind diese Landschaften nicht unberĂŒhrt. Aber — wĂ€ren sie unberĂŒhrt, wĂ€ren wir und viele andere InselgĂ€ste wohl gar nicht auf die Idee gekommen, hierher zu kommen. Sie mussten schon einen alten Rosthaufen in die »unberĂŒhrte Natur« stecken, um sie fĂŒr uns ĂŒberhaupt sichtbar zu machen. (Ironie #4 und Schluss.)

Strandobjekt-Norderney-Oskar-Piegsa-2020

Die Leichen im Keller deutscher Museen

Die Debatte um die RĂŒckgabe von mutmaßlich gestohlenen Objekten in deutschen Sammlungen erreicht nach den kunsthistorischen und ethnologischen nun auch die naturkundlichen Museen. Die Regierung von Tansania erwĂ€gt, die RĂŒckgabe des Brachiosaurier-Skeletts aus dem Berliner Naturkundemuseum zu fordern, das einst aus der Kolonie Deutsch-Ostafrika geholt wurde. Mehr dazu auf Piqd.

Green No Deal: Wenn Unternehmen fĂŒr weniger Konsum werben

Sozialexperiment: fast 62 % zahlen zu wenig fĂŒr Bio Produkte

Ah, Werbung und Marketing in Zeiten des Klimawandels. Gibt es etwas Spannenderes?

Die Biomarktkette Bio-Company wirbt – siehe das PR-Foto oben – seit einiger Zeit mit dem Slogan »Kauf weniger« und macht damit auf sich aufmerksam: »Kauf weniger, aber bitte bei uns!«. Ich bin gespannt, ob das aufgeht. (Mehr Infos zur Werbekampagne hier.)

Ich muss dabei an mein altes Fairphone denken, das bei seiner EinfĂŒhrung von dem Hinweis begleitet wurde, das fairste Handy sei immer jenes, welches man bereits besitze. Das ist natĂŒrlich sachlich korrekt, wurde als freundlicher Hinweis aber aufgegeben, als es schlagartig keine Updates mehr fĂŒr das ansonsten noch solide funktionierende Fairphone 1 gab und die Spam-Mails anfingen, man möge sich jetzt doch bitte endlich ein Fairphone 2 kaufen.

Und jetzt: Ein neues Magazin aus der Brigitte– Familie! Brigitte Be Green. Titelzeile der ersten Ausgabe: »Macht Verzicht glĂŒcklich? Ja!« (hier der Link zum Cover). Was natĂŒrlich eine Einladung ist, das Heft nicht zu kaufen und auszuprobieren, ob die Redaktion recht hat.

Ich kann berichten: Ich sitze zu Hause, nachdem ich das Magazin im Sinne seiner Titelgeschichte sehr bewusst nicht gekauft habe, aber richtig glĂŒcklich bin ich nicht. Denn ich hĂ€tte doch ganz gerne gewusst, was fĂŒr Anzeigen in dem Heft gedruckt sind. Bio Company? Fairphone? Das allein plus keine Leser ist womöglich nachhaltig, aber kein nachhaltiges Business.

Womöglich zeigt sich also bei Bigitte und Bio-Company wie beim Fairphone: Kein Konsum ist gut fĂŒrs Klima, aber keine Grundlage fĂŒr unternehmerischen Erfolg.

Foto: obs/Dorothea Tuch fĂŒr BIO COMPANY, Nutzung kostenfrei, via Presseportal.de

Kaiser sein hilft auch nicht

Kaiser Wilhelm II. als tragische Wurst & Ahnherr der toxischen MĂ€nnlichkeit:

In Wirklichkeit war er ein weichlicher Mann von nervöser Reizbarkeit […]. Gleichwohl war das Erscheinungsbild, das er glaubte, von sich vermitteln zu mĂŒssen, das des obersten Kriegsherrn, des Inbegriffs von MaskulinitĂ€t, HĂ€rte und patriarchalischer Entschlossenheit. Und dennoch, obgleich er Regierung und Verwaltung in Deutschland in einem nie dagewesenen Ausmaß zentralisierte und sieben Kinder zeugte, schien er weder in seiner Herrscher – noch in seiner Vaterrolle die große ErfĂŒllung gefunden zu haben.

aus: Modris Eksteins, Tanz ĂŒber GrĂ€ben: Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek: Rowohlt 1990.

Heimliche Profiteure des Feminismus (psst: es sind MĂ€nner)

MĂ€nner sterben in Deutschland im Schnitt fĂŒnf Jahre frĂŒher als Frauen. Dazu schreibt heute Paula Lochte in der FAS:

Das hat weniger genetische Ursachen als gesellschaftliche. Mehr als 75 Prozent der Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung sind auf nichtbiologische Faktoren zurĂŒckzufĂŒhren, hat der Demograph Marc Luy errechnet. Auf dieser Erkenntnis baut eine jĂŒngst veröffentlichte Studie des Robert-Koch-Institutes und der UniversitĂ€t Bielefeld auf. »MĂ€nner sterben durch ihr Verhalten frĂŒher: Rauchen, Alkoholkonsum, schlechtes Essen und riskante Manöver im Straßenverkehr«, zĂ€hlt Petra Kolip auf, die als Professorin fĂŒr PrĂ€vention und Gesundheitsförderung an der Studie beteiligt war.

Demnach leben MĂ€nner — das habe eine zweite Studie gezeigt — dort lĂ€nger (und Ă€hnlich lange wie Frauen), wo grĂ¶ĂŸere Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herrscht.

Hier geht’s zum Text.

Schlaf gut, sagt der Kapitalismus

Schlaf ist Freiheit. WĂ€hrend wir in jeder wachen Minute mit Werbung (mit Notifications, mit Fotos, mit Tweets) bombardiert und dazu angehalten werden, zu konsumieren (uns zu empören, unsere Meinung zu sagen, oder auf andere Weise den Zirkus am Laufen zu halten), wĂ€hrend es fĂŒr jedes andere menschliche BedĂŒrfnis  (Essen, Trinken, Sex und Freundschaft) eine Milliardenindustrie gibt, die dieses ausbeutet, ist der Schlaf die letzte Enklave menschlicher Existenz, die vom Kapitalismus nicht kolonisiert wurde.

So oder so Àhnlich schrieb Jonathan Crary von einigen Jahren in seinem Essay 24/7 , in dem das Schlafen als eine linke, widerstÀndige Praxis erschien (mehr dazu hier in diesem Blog).

Aber, ach! Alles vorbei:

Finally, and perhaps inevitably, after centuries of simply concentrating on our waking hours, capitalism is coming for our sleep.

Das schreibt Stuart McGurk in der aktuellen Ausgabe der britischen GQ, fĂŒr die er bei WirtschaftsprĂŒfern, Premier-League-Fußballvereinen und anderswo einige Player des — wie er schreibt — ÂŁ100-Milliarden-Marktes fĂŒr besseren Schlaf getroffen hat.

McGurk verschweigt nicht, dass es immer noch etliche Konzerne gibt, die sie der BekÀmpfung des Schlafes verschrieben haben (oder die den Schlaf ihrer Kunden als notwendigen Kollateralschaden ihres wirtschaftlichen Wachstums sehen).

Wunderbar pointiert dazu: Reed Hastings, CEO von Netflix und damit einer der Oberdisruptoren des Silicon Valley, der sagte, sein Ă€rgster Konkurrent sei nicht HBO oder Amazon Prime oder oder oder, sondern: der Schlaf. Wer schlĂ€ft, kann nicht Netflix schauen. Deshalb mĂŒssen die Leute weniger schlafen. Das schĂ€rfste Schwert in dieser Schlacht heißt Autoplay. (Link zum Hastings-Statement.)

Aber im Zuge des wachsenden Interesses an Mental-Health-Themen, als dessen Ursprung McGurk den Auftakt der Krisenkaskaden 2008ff ausmacht, gĂ€be es inzwischen auch den wirtschaftlichen »Megatrend Schlaf« — und große Konzerne wie Apple, die sich gegen Netflix, YouTube/Google, Amazon positionieren, nĂ€mlich: pro Schlaf.

Let’s see who wins. Hier geht es zu McGurks Reportage (kostenlos lesbar).

Entdeckt habe ich den Artikel im Next-Draft-Newsletter von Dave Pell (den man hier abonnieren kann).

[Nachtrag, 6. August 2019]: Heute habe ich in Hamburg-Ottensen das Plakatmotiv von Ikea endeckt, das »fĂŒr eine bessere Work-Life-Sleep-Balance« wirbt. Passt zum Thema wie der Kopf aufs Kissen. Und dann hat noch irgendwer ein verzweifeltes kleines Retro-Graffito draufgekritzelt! Toll. Deshalb ist es jetzt das Aufmacherbild dieses Postings.

»Vampires of the Silicon Valley«

Es ist 2019 und die Grenze zwischen RealitĂ€t und Fiktion ist porös: Computer werden intelligent wie HAL 9000, in den Straßen deutscher StĂ€dte gehen Cyborgs spazieren und unweit des Silicon Valleys wurden sogar Vampire gesichtet.

Es ist eine zunehmende – und weitgehend unregulierte – Einwanderung fantastischer Figuren in die außerliterarische Wirklichkeit festzustellen. Und niemand tut was dagegen! OK, fast niemand. Denn im Fall der Vampire schaltete sich jetzt die Food and Drug Administration (FDA) ein, die amerikanische Behörde fĂŒr Lebens- und Arzneimittelsicherheit.

Weiterlesen