Krimis sind auch nicht besser als Groschenromane

Krimis sind der neue Goldstandard der Literaturkritik. Das ist nicht mein Gedanke, das las ich neulich in einem Interview, meine ich (aber ich welchem? Es ist leider nicht mehr zu rekonstruieren). Darin klagte jemand, dass heute das höchste Lob eines Kritikers oder einer Kritikerin in der Formulierung läge: »Spannend wie ein Krimi!«

Wer »spannend wie ein Krimi« googlet, dem entfaltet sich das Feld, in dem diese Floskel Anwendung findet – und dieses Feld ist riesig. Es umfasst Literatur aller Art, Theater, Filme, Musik und mehr.

»Spannend wie ein Krimi«, das ist ein Gegenwartsroman, ein naturwissenschaftliches Sachbuch, eine historische Studie, Kammermusik von Brahms, eine Messe in e-Moll, eine Archivrecherche zum Mauerfall, eine Biografie des Ministerpräsidenten von Thüringen, eine Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, ein Spielfilm über Gentrifizierung in Istanbul, Kindertheater in Pinneberg, […].

Ich zitiere und verlinke hier übrigens nur Texte von Menschen, die fürs Hinsehen, Urteilen, Formulieren und Schreiben bezahlt werden. Erweitert man die Quellenauswahl über die professionellen journalistischen Medien hinaus, findet man auch die Behauptung, Schönheitspflege, Kaltakquise und PowerPoint seien »spannend wie ein Krimi«. (Aber da wird die Behauptung langsam wirklich unseriös.)

Bleibt noch die Frage: Sind Krimis überhaupt spannend? Weiterlesen „Krimis sind auch nicht besser als Groschenromane“

Zu Besuch in der Superheldinnen-WG

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Comicfestival

Die Zeichnerin Marijpol hat sich für ihren Comic Hort die WG dreier Superheldinnen ausgedacht: Petra ist eine Bodybuilderin, Ulla eine Riesin und Denise experimentiert mit Körpermodifikationen (da, wo bei anderen Arme und Beine sind, ragen bei ihr lebende Schlangen aus Hosenbeinen und Ärmeln).

Allerdings sind es drei Superheldinnen, die nicht Verbrecher jagen, sondern versuchen, mit ihrem Alltag klarzukommen, eine ungleich schwierigere Aufgabe.

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Gegen das Neun-Euro-Ticket

»Die extreme Schnelligkeit der Bahnreise ist etwas Antimedizinisches. In zwanzig Stunden von Paris aus ans Mittelmeer zu fahren, wie man es heute tut, und dabei Stunde auf Stunde derart unterschiedliche Klimata zu durchqueren, ist das Unvorsichtigste, was eine nervlich leidende Person sich vorsetzen kann.«

– Jules Michelet, 1861. (Zitiert aus dem Buch Das Meer, ins Deutsche übersetzt von Rolf Wintermeyer, mehr dazu hier.)

Das Strandbad Wannsee in den 1950er-Jahren

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Das Strandbad Wannsee kannte ich bisher nur aus den Fotos von Will McBride, die unter anderem in seinem Foto-Tagebuch 1953-1961 zu sehen sind (dieses Buch gibt’s leider nur noch antiquarisch). Jetzt hat der Schriftsteller und frühere Verleger Michael Krüger seine Jugenderinnerungen unter dem Titel Das Strandbad veröffentlicht. Gemeint ist jenes Stück Wannsee-Ufer, von dessen weißem Sand er heute noch schwärmt.

Krüger war, so vermutet er, ungefähr zeitgleich mit Conny Froboess dort (die sang 1951: »Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein, und dann nüscht wie raus nach Wannsee!«), aber offenbar noch vor Will McBride. Der fotografierte laut seinem Biografen Ulf Erdmann Ziegler nämlich erst zwischen 1956 und 1959 im Strandbad.

Schade, denn die Stimmung von Krügers Text und von McBrides Fotos passen gut zusammen. Beide veranschaulichen die tastende, suchende Westanbindung der Nachkriegsjugend West-Berlins.

Michael Krüger muss nicht viel von alten Nazis schreiben um zu vermitteln, welcher Ton damals an der Schule herrschte, wo Wallensteins Truppenbewegungen gepaukt wurden. Am Nachmittag holte er die Bildung nach, die er brauchte: Im Strandbad und mit den Büchern von Hemingway, Faulkner und Camus.

»Ich verfolgte zu jener Zeit das Projekt, mich als Fatalist und Existenzialist auszubilden, und ging selbstverständlich davon aus, vom sozialen Leben ferngehalten und von Mädchen übersehen zu werden«, schreibt Krüger. »Wenn ich dann gelegentlich einen Schritt weiter ging und vom ›Geworfensein‹ faselte, was meinen Freund Rudi zur Weißglut brachte, der auf der Geburt bestand – ›Man wird geboren, nicht geworfen‹ –, war es meistens mit dem Interesse der Mädchen vorbei. In jener Zeit hatten in West-Berlin überspannte Typen mit durchtrainiertem Weltschmerz wenig Chancen.«

Der lakonische Ton, die unaufdringliche Ironie – ich habe das gerne gelesen. Das Buch erscheint in der 5plus Edition in kleiner Auflage und wird in ausgewählten Läden verkauft (etwa bei Felix Jud in Hamburg).

Mehr noch als die Handnummerierung hätte ihm ein etwas strengeres Lektorat gut getan: Ein paar Streichungen hätten den Text gestärkt, da wo Krüger im abfälligen Ton über Jugendliche einer Gegenwart schreibt, die er weder verstehen kann, noch will. Der Schriftsteller fühlt sich wohler in seinen Erinnerungen an die 1950er und an den weißen Sand des Strandbads. Wer könnte es ihm verübeln.

Kill your TV

»You sound pretentious in the West when you say you love Homer and read the ›Iliad‹ as a child, but in communist Albania there were only 15 minutes of TV each day, we didn’t have cartoons, all we had was Homer.«

Das sagte Lea Ypi, Autorin des wunderbaren Memoir Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte, bei der heutigen Buchpräsentation im Gespräch mit Peter Neumann im The New Institute.

Was die Frage aufwirft: Wer in Westeuropa schon als Kind die Ilias las, der durfte vermutlich auch nicht länger als täglich 15 Minuten fernsehen?

Bodentiefe Fenster: Die Geschichte einer Metapher

Vor einigen Jahren erzählte Anke Stelling in ihrem Roman Bodentiefen Fenster (2015) vom Leben einer jungen Familie in Prenzlauer Berg – nein, eigentlich ging es nur um eine junge Mutter und ihre Kinder (der Vater war trotz des emanzipierten Selbstverständnisses der Familie im Roman seltsam abwesend, vielleicht keine untypische Erfahrung).

Diese Frau, die Ich-Erzählerin Sandra, wird zerrieben zwischen den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellt, und jenen Ansprüchen, von denen sie meint, andere würden sie an sie stellen. Sie führt fraglos ein privilegiertes Leben, aber glücklich ist sie nicht. Stattdessen befindet sie sich in einer permanenten Mikropanik.

Eine exemplarische Szene:

Am Montagmorgen sind wir zu spät dran. Bo muss vor halb zehn in der Kita sein, zum Morgenkreis; die Erzieherinnen legen Wert darauf, den Tag gemeinsam zu beginnen. Die Erzieherinnen sind überzeugt, dass jemand, der sein Kind erst nach neun bringt, ohnehin nicht ernsthaft arbeitet, sondern nur zu faul sei, es zu Hause zu betreuen. Oder ich denke, dass sie das denken. Weil ich es selbst denke. Bo will Gummistiefel anziehen, obwohl draußen schon fünfundzwanzig Grad sind und keine Wolke zu sehen ist. Mir könnte das egal sein, aber mir graut vor den Blicken der Erzieherinnen. Ich will nicht, dass sie denken, ich sei so eine, die sich nicht gegen ihren Dreijährigen behaupten kann, eine, die alles mit ihm diskutiert und ihn am Ende selbst entscheiden lässt, was er anzieht, aus Angst, dass er sonst schreit oder tritt oder in seiner freien Entfaltung behindert wird. Ich weiß gar nicht, ob die Erzieherinnen das denken, aber ich weiß, dass ich das denke und solche Angstmütter nicht mehr ertragen kann; sie umzingeln mich und machen mich wahnsinnig.

(Die hier gefetteten Wörter sind im Originaltext kursiv hervorgehoben.)

Die für den Roman titelgebenden »bodentiefen Fenster« markieren nicht nur das Milieu, um das es hier geht (Eigentumswohnung, Baugemeinschaft, Szene-Kiez, Geld ist im Spiel, aber man lebt betont unspießig).

Sie sind auch eine Metapher für den Bewusstseinszustand der Protagonistin. Sie lebt wie in einem Panoptikum.

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Das beste Jugendbuch des Jahres

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Krummer Hund ist das beste Jugendbuch des Jahres 2021. Sage nicht ich, sondern die Jury des Luchs-Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Dieses Urteil scheint mir plausibel zu sein.

Am Freitag, 18. März, wird der Preis an die Autorin Juliane Pickel überreicht, die Laudatio hält Sven Regener, das könnte ein guter Abend werden. (Für alle, die nicht in den Resonanzraum kommen können oder wollen, gibt es ab 19 Uhr einen Livestream hier.)

Ich habe Juliane Pickel neulich schon treffen dürfen, wir waren verabredet in einem Keller auf St. Pauli. Mein Text über unsere Begegnung steht jetzt hier auf ZEIT ONLINE.

Und wegen Krummer Hund: Man kann das auch sehr gut als Erwachsene/r lesen!

P.S.: Bitte nicht über meine Topfblumen lachen.

Clemens J. Setz schreibt im Feuilleton über seinen Penis. Das ist kein Witz.

Wir sind uns vermutlich einig, dass es Themen gibt, die gerade wichtiger und drängender sind, aber falls Sie es noch nicht gesehen haben: Der Schriftsteller Clemens J. Setz hat heute im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung eine ganze Seite über seine Vorhaut geschrieben.

Genauer: Darüber, wie er sie im Alter mit 22 verloren hat. Durch einen operativen Eingriff, der blutig, schmerzhaft und aus der heutigen Sicht des Autoren völlig unnötig war.

Es ist unangenehm, das zu lesen. Nicht, weil einem gleich die Kastrastionsangst kommt (obwohl, zugegeben, schon auch ein bisschen deshalb), sondern weil in der sachlichen und präzisen Schilderung von Setz deutlich wird, was es bedeutet, wenn ein medizinischer Apparat in Fragen der sexuellen oder genitalen Selbstbestimmung routiniert und rücksichtslos vorgeht.

(Das trifft in ungleicher Härte und Konsequenz Transpersonen und Intersexuelle, aber eben nicht ausschließlich diese, sondern oft genug auch Frauen, die gebären, oder, wie sich hier zeigt, weiße Cis-Dudes mit Vorhautverengung.)

Nachdem ich diesen Text gelesen hatte, war ich erst unentschieden, was ich davon halte. Ich glaube aber, dass es aufklärerisch ist, auf diese Weise über den Penis zu schreiben, der vielleicht nur vordergründig das weniger tabuisierte Genital ist.

Ich wüsste jedenfalls nicht, wann mir ein Autor seinen Schwanz so präsentierte: Verletzlich und verwundet, schwach, ausgeliefert und missbraucht. Hier geht es zu seinem Text.

(Dieses Posting ist zuerst auf piqd.de erschienen, der Website für handverlesene Leseempfehlungen aus dem Netz, nämlich hier.)

Was soll ich lesen? Houellebecq vs. Neft

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Wenn Sie, werte Leserinnen und Leser, nur Zeit für einen neuen Roman mit Wolken auf dem Cover haben, der von der Aufarbeitung familiärer Traumata erzählt und am Ende stirbt die Hauptfigur an Krebs — wie sollen Sie sich dann entscheiden?

Für Michel Houellebecq und sein Buch Vernichten, das in allen Feuilletons auf Seite 1 besprochen wurde? Oder für Anselm Neft und Späte Kinder, einen Autoren, von dem Sie ehrlich gesagt noch nie gehört haben?

Easy. Nehmen Sie Neft. Das sage ich nicht nur, weil mich der Autor neulich nachts im Wohlerspark mit alkoholfreiem Bier gefügig machte und mir dann sein Buch in die wehrlosen Hände drückte.

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Auf der Suche nach Heino Jaeger

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Ich war neulich mit Rocko Schamoni in Harburg verabredet und das erste, das wir dort sahen, war ein LKW mit dem Aufdruck Jaeger. Ist das ein Zeichen, oder was?

Weil: Wir waren ja da, um uns auf die Spuren des verstorbenen, fast vergessenen Künstlers und Komikers Heino Jaeger zu begeben, den Rocko Schamoni sehr schätzt. Für was schätzt er Heino Jaeger? Für seinen »pointenlosen Humor«, seinen »feinen Strich«, seine »zerfrästen, alltagszerstörten Figuren«. Und nicht zuletzt für die »seltsame, organische Klumpizität« seines bildnerischen Werks.

Sie merken, da spricht ein Fachmann! Aber ohne Flachs: Wieso Schamoni einen Roman über Heino Jaeger geschrieben hat (Der Jaeger und sein Meister, neu bei Hanser Blau), als nächstes eine große Ausstellung mit auf den Weg bringt (ab 26. Februar 2022 im Kunsthaus Stade) und was das alles mit den früheren Büchern Dorfpunks und Große Freiheit zu tun hat, das steht jetzt in den Hamburg-Seiten der ZEIT.

Übrigens: Der LKW war wirklich ein Zeichen. Denn wir besuchten das Archäologische Museum Hamburg und Stadtmuseum Harburg und wurden dort mit einer Riesenladung an Jaeger-Werken beglückt, die Jens Brauer und Michael Merkel für uns aus dem Lager holten. Danke!

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(Foto mit meinen Füßen, weil ich höre, das mache man jetzt so — und weil ich nicht weiß, wie ich sonst das riesige Doppelseitenformat der ZEIT in ein Hochkantfoto kriegen soll.)