Ein Jahr seit dem russischen Überfall

Russland

Ich kam heute am Generalkonsulat der Ukraine in Hamburg vorbei, Mundsburger Damm, Alsterufer. Es war ein kühler, sonniger Tag — genau wie bei einem früheren Besuch, fiel mir ein.

Damals hatte man hier den Asphalt der Straße kaum sehen können vor Menschen und Solidaritätsfahnen. Das war Anfang März 2022, ich habe noch einen Schnappschuss davon auf dem Handy gefunden. Links, das Haus mit der Fahne, ist das ukrainische Generalkonsulat.

Auf dem Rückweg fuhr ich heute am Feenteich vorbei, dort steht ein zweites Generalkonsulat, das russische. Ein stummer Protest auf der Straßenseite gegenüber: Jemand hat Luftballons in den Nationalfarben jenes Landes aufgehängt, in dem russische Raketen seit bald einem Jahr wieder und wieder in Wohnhäuser einschlagen und in dem russische Soldaten morden. Polizeiwagen parken hier, man könnte fast denken, auch sie trügen diese Farben.

Nur etwas mehr als ein Kilometer trennt die beiden Häuser, etwas weniger als ein Jahr die beiden Fotos. Es ist in der Zwischenzeit doch ziemlich still geworden in Hamburg.

Krimis sind auch nicht besser als Groschenromane

Krimis sind der neue Goldstandard der Literaturkritik. Das ist nicht mein Gedanke, das las ich neulich in einem Interview, meine ich (aber ich welchem? Es ist leider nicht mehr zu rekonstruieren). Darin klagte jemand, dass heute das höchste Lob eines Kritikers oder einer Kritikerin in der Formulierung läge: »Spannend wie ein Krimi!«

Wer »spannend wie ein Krimi« googlet, dem entfaltet sich das Feld, in dem diese Floskel Anwendung findet – und dieses Feld ist riesig. Es umfasst Literatur aller Art, Theater, Filme, Musik und mehr.

»Spannend wie ein Krimi«, das ist ein Gegenwartsroman, ein naturwissenschaftliches Sachbuch, eine historische Studie, Kammermusik von Brahms, eine Messe in e-Moll, eine Archivrecherche zum Mauerfall, eine Biografie des Ministerpräsidenten von Thüringen, eine Ausstellung im Haus der Geschichte Baden-Württemberg, ein Spielfilm über Gentrifizierung in Istanbul, Kindertheater in Pinneberg, […].

Ich zitiere und verlinke hier übrigens nur Texte von Menschen, die fürs Hinsehen, Urteilen, Formulieren und Schreiben bezahlt werden. Erweitert man die Quellenauswahl über die professionellen journalistischen Medien hinaus, findet man auch die Behauptung, Schönheitspflege, Kaltakquise und PowerPoint seien »spannend wie ein Krimi«. (Aber da wird die Behauptung langsam wirklich unseriös.)

Bleibt noch die Frage: Sind Krimis überhaupt spannend? Weiterlesen „Krimis sind auch nicht besser als Groschenromane“

False Friends: Was heißt »Weimar« auf Deutsch? Und was »Hindenburg«?

Im Fremdsprachen-Unterricht ist manchmal von false friends die Rede: Wörter, die ähnlich klingen, aber nicht dasselbe bedeuten. Das englische Wort warehouse klingt beispielsweise wie das deutsche »Warenhaus« (also »Kaufhaus«). Tatsächlich ist es mit »Lagerhalle« korrekt übersetzt. Das englische Wort für »Kaufhaus« ist department store.

Die false friends sind eine Falle, in die manchmal selbst professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer tappen. Ich erinnere mich noch daran, wie ich vor rund zehn Jahren den Roman The Taqwacores des amerikanischen Autoren Michael Muhammad Knight in der deutschen Übersetzung las. Es geht in dem Roman um eine Gruppe muslimischer Punks, junge Menschen, die gläubig sind, aber nicht unbedingt regelkonform. Und, wow, wie rebellisch die waren! Da stand sogar, einer der Protagonisten esse gelegentlich Pizza mit Peperoni!

Äh, … und? Was ist das Problem? Ganz einfach: Es handelt sich um einen false friend. Das englische Wort peperoni pizza heißt auf Deutsch »Salami-Pizza« und Salami besteht aus Schweinefleisch, ist für Muslime also verboten. (Etwas ausführlicher habe ich über den Roman The Taqwacores in der Popzeitschrift Spex sowie hier geschrieben.)

Von einem false friend im weiteren Sinne – nämlich von historischen Begriffen, die auf unterschiedlichen Seiten des Atlantiks unterschiedliche Dinge bezeichnen – las ich neulich in einem Interview mit dem Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch. In dem Buch Die andere Seite. Leben und forschen zwischen New York und Berlin spricht er über die Bedeutung des Begriffs »Weimar« im Deutschen und im Englischen.

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Tschüß, Fettes Brot!

Fettes Brot

Die drei Herren auf dem Bild links sind Fettes Brot, fotografiert von Alexandra Polina in der Bernstorffstraße.

Wer sich jetzt die Hamburch-Ausgabe der ZEIT holt, kriegt zusätzlich zum Foto noch das große Interview mit der Band darüber, warum sie jetzt nach dreißig Jahren aufhört. Und was danach kommt. Und wie lange es dann wohl noch bis zur Reunion dauert.

Das Interview, das meine Chefin Maria Rossbauer und ich führten, ist hier auch online zu lesen. Und meine Würdigung von Fettes Brot, geschrieben als uns im vergangenen Jahr die Nachricht ihrer Auflösung ereilte, steht hier (beides Texte für Leute mit ZEIT-Abo).

Die beiden Abschiedskonzerte von Fettes Brot am 1. und 2. September auf der Bahrenfelder Trabrennbahn sind leider längst ausverkauft.

Hamburger Arroganz feat. Kurtis Blow

Ein wunderbares Fundstück deutscher Popgeschichte, gepriesen sei YouTube. WTF ist das? Hier erklärt’s André Luth (Yo Mama / Fettes Brot Schallplatten GmbH):

»In den Mitt-Achtzigern gab es die Band Hamburger Arroganz, die so eine Art Wham-Rap auf Deutsch versuchten. Die hatten sogar eine Single mit Kurtis Blow.«

(Quelle, S. 20)

Als Antwort auf die Frage, wer zuerst auf Deutsch rappte, wäre womöglich auch diese Band zu nennen (ohne behaupten zu wollen, dass sie was mit HipHop zu tun hat, Kurtis-Blow-Feature hin oder her). Bis die ersten Aufnahmen von Advanced Chemistry, Cora E. und anderen erschienen, sollten jedenfalls noch Jahre vergehen.

Ende 2021 gab es offenbar eine Reunion von Hamburger Arroganz, inkl. der Veröffentlichung neuer Songs, bisher allerdings weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit. Meine Damen und Herren: Es gibt hier eine Band wiederzuentdecken!

Michel Majerus, 20 Jahre später

Michel Majerus – Data Streaming (Kunstverein Hamburg)
Abb.: Ausstellungsansicht von »Data Streaming« im Kunstverein

Im Jahr 2005, nach dem frühen Tod des Malers Michel Majerus (1967–2002), wurden seine Arbeiten in den Deichtorhallen gezeigt. Ich erinnere mich noch, wie genervt ich damals war: Da malt einer popkulturelle Referenzen in seine Bilder und die Leute feiern ihn, als wäre das etwas Neues. Buhuhu!

Die Zeitschrift The Face, deren Cover Majerus abmalte, war bereits eingestellt worden und der Disneyfilm Tron, dem er eine Werkreihe widmete, bloß eine ferne Jugenderinnerung. Trotzdem erschienen mir die Motive gegenwärtig, vertraut, banal – was mehr über meine Ignoranz aussagt, als über die Arbeiten.

Gut, dass ich mit der Ausstellung Data Streaming, die gerade im Kunstverein läuft, eine zweite Chance bekommen habe, Majerus‘ Bilder zu sehen.

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Der kommende Aufstand

Die beste Ausstellung, die ich 2022 gesehen habe – oder zumindest diejenige, die mich am längsten beschäftigt hat –, war Amazons of Pop in der Kunsthalle Kiel. Gezeigt wurde dort, wie Frauenbilder der Popkultur in den 1960er- und 1970er-Jahren Künstlerinnen inspirierten, soft-pornografische Männerfantasien feministisch umzudeuten. Ich habe hier darüber geschrieben.

Aktuell und noch bis 19. März 2023 läuft nun im Kunstmuseum Basel eine weitere Ausstellung feministischer Kunst, Fun Feminism. Dort wird unter anderem diese Videoarbeit von Martha Rosler gezeigt:

Philipp Hindahl schreibt in seiner Rezension der Ausstellung in der heutigen Ausgabe des Tagesspiegels (hier online lesbar):

»Martha Roslers Video ›Semiotics of the Kitchen‹ von 1975 ist ein Klassiker – und ein guter Anknüpfungspunkt für eine Geschichte feministischer Kunst. In dem Schwarz-Weiß-Video widmet sich Rosler Dingen in ihrer Küche und handhabt sie so, als wollte sie daraus Waffen gegen das Patriarchat machen.«

Ich muss bei Semiotics of the Kitchen an die Kritik Betty Friedans denken, die 1963 in ihrem Buch The Feminine Mystique von der Vereinsamung, Gefangenschaft und sogar Entmenschlichung der Frauen in den Küchen der amerikanischen Vorstädten schrieb.

Ob das Video wirklich unter die Überschrift »fun« passt? So mancher Ehemann wird es seiner Zeit vermutlich mit Beklemmungen gesehen haben und mit Sorge vor einem kommenden Aufstand …

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Kann Kunst heilen?

»Kunst auf Rezept: Wie sinnliche Erlebnisse heilen können«, ist die Überschrift eines Artikel von Susanne Donner, der heute im Tagesspiegel erschienen ist (online hier, hinter der Abo-Schranke).

Donner berichtet über Forschungsprojekte, die Kunst und Musik in therapeutischen Kontexten einsetzen, etwa »Kunst auf Rezept« in Schweden, das von der Psychologin Anita Jensen von der Uni Aalborg betreut werde. Menschen mit einer psychischen Erkrankung gehen dabei zehn Wochen lang zweimal pro Woche in Kultureinrichtungen.

»Die meisten waren vorher nie in einem Museum oder einer Oper«, sagt Jensen. Und sie staunen über die Stimmungsaufhellung und das wachsende Selbstwertgefühl, wie sie unter anderem in einer Veröffentlichung in »Perspectives in Public Health« darlegte. Auch die betreuenden Ärzte würden bemerken, dass es ihren Kranken besser geht.

Diese Schilderung ist faszinierend – immerhin wird viel darüber geredet, wie man Schwellenängste abbauen und Menschen in Museen und Theater locken kann. Da gibt es Tage mit kostenlosem Eintritt und dergleichen mehr, das wirksam sein mag oder auch nicht. Aber Donner schildert hier einen Ansatz, der ja – wenn sie mit ihren Ausführungen recht hat – nicht nur den Patient*innen nützt, sondern auch den Museen und Opern, der nicht nur Leiden zu mindern scheint, sondern auch einen wirksamen »Outreach« der beteiligten Kulturinstitutionen darstellt. Toll!

Unklar ist aber, ob es wirklich die Kunst und die »sinnlichen Erlebnisse« sind, denen hier heilende Fähigkeiten zugesprochen werden können. Immerhin wird die Psychologin Jensen auch mit den Worten zitiert: »Vielen Menschen tut schon der Austausch mit anderen […] sehr gut.«

Ich wüsste gerne mehr! Ist primär der Kontakt zu anderen Menschen heilsam und die Kunst bloß der Anlass dafür? Dann braucht es die Kunst nicht, dann könnten die Patienten statt ins Museum und in die Oper aber auch in den Zoo oder ins Stadion gehen.

Oder senkt ein Museumsbesuch den Stress, weil es ein Ort der Kontemplation, der Ruhe und konzentrierten Aufmerksamkeit ist? Dann aber wäre wohl auch ein Aufenthalt im Kloster hilfreich, zumal verglichen mit dem Trubel, der in einem beliebten Museum während der Stoßzeiten herrscht.

Sollte es tatsächlich der Kontakt mit den Kunstwerken sein, die zur Heilung beiträgt, gibt es dann Erkenntnisse dazu, ob es einen Unterschied der Wirksamkeit von Originalen und Reproduktionen gibt? Denn: Kunstdrucke ins Krankenhaus zu hängen, die da lustlos gerahmt langsam im Sonnenlicht ausbleichen, wird ja kaum der Therapie zuträglich sein … ?

Ein kalter Tag im Zoo

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Neulich war ich im Zoo mit Jens Nommel. Es war nass und kalt und außer uns war fast niemand zu sehen. In anderen Worten, es war perfekt.

Denn Nommel, der sich auf meinem ersten Schnappschuss so Caspar-David-Friedrich’esque in die Landschaft lehnt, ist Fotograf und dokumentiert unter dem Titel »May Be an Image of Nature« die Architektur von Zoogehegen. Ganz ohne Menschen, ganz ohne Tiere.

(Wie fotografiert man einen Zoo ohne Tiere? Bei unserem Spaziergang zeigte sich, dass es leichter ist, als ich dachte. Die Tiere stehen ohnehin immer nur am Bildrand rum. »In the zoo the view is always wrong«, schrieb schon der große Kritiker John Berger: »One is so accustomed to this that one scarcely notices it any more«.)

Nommel sammelt auf diese Weise Bilder von rätselhaften Landschaften. Landschaften, die um Realismus bemüht und doch erkennbar fake sind, teilweise erinnern mich die Fotos an Screenshots aus Videospielen. Zugleich ist das, was Nommel macht, handwerklich sehr strenge, ja unoriginelle Dokumentarfotografie.

Sie merken, ich bin ein Fan, und als solcher freue ich mich, dass mein kleiner Text über Nommels Fotoprojekt jetzt zusammen mit einigen seiner Aufnahmen auf Panorama.pm erschienen ist, einer tollen Website für Landschaftsfotografie.

P.S.: Eine Ausstellung im Jenaer Kunstverein folgt im November 2023.