Vor einigen Jahren erzählte Anke Stelling in ihrem Roman Bodentiefen Fenster (2015) vom Leben einer jungen Familie in Prenzlauer Berg – nein, eigentlich ging es nur um eine junge Mutter und ihre Kinder (der Vater war trotz des emanzipierten Selbstverständnisses der Familie im Roman seltsam abwesend, vielleicht keine untypische Erfahrung).
Diese Frau, die Ich-Erzählerin Sandra, wird zerrieben zwischen den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellt, und jenen Ansprüchen, von denen sie meint, andere würden sie an sie stellen. Sie führt fraglos ein privilegiertes Leben, aber glücklich ist sie nicht. Stattdessen befindet sie sich in einer permanenten Mikropanik.
Eine exemplarische Szene:
Am Montagmorgen sind wir zu spät dran. Bo muss vor halb zehn in der Kita sein, zum Morgenkreis; die Erzieherinnen legen Wert darauf, den Tag gemeinsam zu beginnen. Die Erzieherinnen sind überzeugt, dass jemand, der sein Kind erst nach neun bringt, ohnehin nicht ernsthaft arbeitet, sondern nur zu faul sei, es zu Hause zu betreuen. Oder ich denke, dass sie das denken. Weil ich es selbst denke. Bo will Gummistiefel anziehen, obwohl draußen schon fünfundzwanzig Grad sind und keine Wolke zu sehen ist. Mir könnte das egal sein, aber mir graut vor den Blicken der Erzieherinnen. Ich will nicht, dass sie denken, ich sei so eine, die sich nicht gegen ihren Dreijährigen behaupten kann, eine, die alles mit ihm diskutiert und ihn am Ende selbst entscheiden lässt, was er anzieht, aus Angst, dass er sonst schreit oder tritt oder in seiner freien Entfaltung behindert wird. Ich weiß gar nicht, ob die Erzieherinnen das denken, aber ich weiß, dass ich das denke und solche Angstmütter nicht mehr ertragen kann; sie umzingeln mich und machen mich wahnsinnig.
(Die hier gefetteten Wörter sind im Originaltext kursiv hervorgehoben.)
Die für den Roman titelgebenden »bodentiefen Fenster« markieren nicht nur das Milieu, um das es hier geht (Eigentumswohnung, Baugemeinschaft, Szene-Kiez, Geld ist im Spiel, aber man lebt betont unspießig).
Sie sind auch eine Metapher für den Bewusstseinszustand der Protagonistin. Sie lebt wie in einem Panoptikum.
Erstens: Das Panoptikum
Das Panoptikum ist eine alte Idee: Der englische Philosoph und Sozialreformer Jeremy Bentham (1748–1832) ersann es als Überwachungsarchitektur, die so angelegt ist, dass ein einzelner Aufpasser dutzende Schutzbefohlene unter Kontrolle halten kann.
Dieses Foto (vom Wikipedia-Autoren Friman unter CC-Lizenz veröffentlicht) zeigt das Presidio Modelo, ein Gefängnis auf Kuba, das von 1931 bis 1967 genutzt wurde und das einst nach dem Modell des Panoptikums gebaut worden war:
Das von Bentham entwickelte Prinzip wird hier deutlich: Die Gefangenen in den Zellen im halbrunden Bau können (theoretisch) jederzeit vom Wächter im Wachturm gesehen werden. Wohin dieser gerade schaut, können sie nicht erkennen.
Der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) schreibt dazu in seinem Buch Überwachen und Strafen (ich zitiere die Übersetzung von Walter Seitter):
Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau ausnehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. […] Das Prinzip des Kerkers wird umgekehrt, genauer gesagt: von seinen drei Funktionen – einsperren, verdunkeln und verbergen – wird nur die erste aufrechterhalten, die beiden anderen fallen weg.
Die Annahme ist, dass jeder Gefangene sich dadurch immer so verhält, als würde er genau jetzt beobachtet werden – und nicht etwa der Typ drei Etagen höher und sieben Zellen weiter links.
Die Idee des Panoptikums ist also, durch diesen psychologischen Trick die Kosten für das Wachpersonal zu reduzieren (theoretisch reicht ein einziger Wächter, um Dutzende Gefangene in Schach zu halten, da es nie zu einer körperlichen Konfrontation kommt) und die Kooperationsbereitschaft der Gefangenen zu erhöhen.
Noch mal Foucault:
[D]er architektonische Apparat ist eine Maschine, die ein Machtverhältnis schaffen und aufrechterhalten kann, welches vom Machtausübenden unabhängig ist; die Häftlinge sind Gefangene einer Machtsituation, die sie selber stützen. […] Zu diesem Zweck hat Bentham das Prinzip aufgestellt, daß die Macht sichtbar, aber uneinsehbar sein muß; sichtbar, indem der Häftling ständig die hohe Silhouette des Turms vor Augen hat, von dem aus er bespäht wird; uneinsehbar, sofern der Häftling niemals wissen darf, ob er gerade überwacht wird; aber er muß sicher sein, daß er jederzeit überwacht werden kann.
Die Macht des Panoptikums entsteht durch die glaubwürdige Simulation von Macht, nicht durch ihre konkrete Anwendung. Der Beweis für das perfekte Funktionieren dieses Baus wäre dann erbracht, wenn im ganzen Gefängnis kein Wärter anwesend ist, aber es dennoch nicht zu Ausbruchsversuchen kommt.
Foucaults Formulierungen, dass die Häftlinge »Gefangene einer Machtsituation« sind, »die sich selber stützen«, scheinen mir zentral. Sie verdeutlichen aber auch, wie prekär die Macht des Panoptikums ist: Es braucht – wie in Hans Christian Andersens Märchen – nur ein Kind am Straßenrand zu rufen, dass der Kaiser nackt sei, und schon hört das Volk auf, über dessen schöne Klamotten zu staunen.
Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb das Panoptikum in der Philosophie und Ideengeschichte eine größere Rolle spielt als in der Baugeschichte?
Zweitens: Bodentiefe Fenster (Theorie)
Ich weiß nicht (aber ich wüsste gern), ob das Panoptikum das erste Bauwerk ist, das bodentiefe Fenster vorsieht. Falls Architekturhistoriker*innen hier mitlesen: Hinweise sind sehr willkommen!
Aber selbst wenn dem nicht so ist, bleibt eine kuriose Entwicklung festzustellen: Jeremy Bentham hatte vorgeschlagen, sein Panoptikum nicht nur für Gefängnisse einzusetzen, sondern auch für »Armenhäuser, Lazarette, Fabriken, Manufakturen, Hospitäler, Arbeitshäuser, Irrenhäuser und Schulen«. (So vermerkte er es auf dem Deckblatt seiner Designstudie, die Bentham im Jahr 1787 veröffentlichte, ich zitiere hier aus der Übersetzung von Andreas Leopold Hofbauer.)
Überspitzt gesagt: Das Prinzip des Panoptikums sollte bei allen Häusern eingesetzt werden, in denen Menschen sich aufhalten, außer in Wohnhäusern. Um so erstaunlicher, dass heute das panoptische Prinzip, das sich in Gefängnissen, Hospitälern und Schulen nicht dauerhaft durchsetzen konnte, ausgerechnet im Wohnungsneubau breiten Einzug gehalten hat.
Diese werden heute oft mit bodentiefen Fenstern ausgestattet, die zwar für lichtdurchflutete Räume sorgen, hinter man denen aber lebt wie hinter Schaufenstern (oder in den Worten Foucaults: Jede Wohnung ist ein kleines Theater).
Man weiß zwar nie, ob gerade wirklich jemand hineinschaut, aber wenn man die psychische Disposition von Anke Stellings Ich-Erzählerin Sandra hat, dann antizipiert man es. Man hält die Wohnung stets aufgeräumt, weil man erwartet, dass einen der strafende Blick der Leute aus dem Nachbarhaus oder der zufällig vorbeikommenden Passanten trifft. Man ist lieber vollständig bekleidet, wenn man morgens aus dem Bett zur Kaffeemaschine in der Küche huscht. Man spielt anderen das perfekte Ehe- und Familienleben vor.
Und man droht – wie Sandra – zu Grunde zu gehen an den Ansprüchen der permanenten Makellosigkeit des eigenen Lebens, Erziehens und Arbeitens. (Die man übrigens nicht nur hinter dem bodentiefen Fenster für die Nachbarschaft aufführt, sondern selbstverständlich auch beim Kita-Besuch, auf Instagram und anderswo für die ganze Welt — deshalb sind die bodentiefen Fenster hier eine Metapher für einen inneren Zustand.)
Man ist Gefangener einer Machtsituation, die man selber stützt. Tja, man könnte sogar sagen: Die man selbst erst herstellt. Denn in einen panoptischen Gefängnisbau wird der Gefangene gegen seinen Willen verbracht. In den Neubau zieht man freiwillig (und auch das Insta-Profil meldet man selbst an).
Drittens: Bodentiefe Fenster (Praxis)
Vor einiger Zeit bin ich in ein Neubauviertel gezogen, in dem – genau! – fast alle Häuser bodentiefe Fenster haben. Wenn man hier durch die Straßen läuft, hat man aber nicht das Gefühl, von einer Theatervorführung in die nächste zu wechseln. Eher bekommt man gar nichts von den Nachbarinnen und Nachbarn mit. Ihre bodentiefen Fenster sind blickdicht verschlossen mit Plissees.
Anfangs hat mich das irritiert – warum ziehen die Menschen in Wohnungen mit riesigen Fenstern, um diese dann dauerhaft verschlossen zu halten? Das ist die Außenperspektive, der Gedanke des Flaneurs, der selbst noch nicht in einer Wohnung mit Plissees gewohnt hat. Die Innenperspektive ist eine andere.
Plissees sind nicht gerade schön, aber sie sind praktisch, weil sich mit ihnen der größte Nachteil der bodentiefen Fenster lösen lässt, ohne ihren Vorteil zu opfern. Sie schaffen Privatheit und lassen zugleich noch relativ viel Licht in die Wohnung. Allerdings um den Preis, das man wie hinter Milchglasscheiben lebt, seltsam abgekapselt von der Welt.
Auch das könnte eine Metapher für einen Roman über die mentale und emotionale Verfasstheit von Menschen in der urbanen Mittelschicht sein, allerdings ist Milchglasartige Plissees kein so guter Buchtitel wie Bodentiefe Fenster.
Vielleicht sind die bodentefe Fenster als Metapher aber ohnehin bald historisch. Die Journalistin Katja Fischer berichtet:
Große, bodentiefe Fensterfronten waren und sind in Neubauten nach wie vor ziemlich gefragt. Aber es gibt auch einen auffallenden Gegentrend, der auf den ersten Blick ein wenig überraschend erscheint: Oft werden aktuell recht schmale Fenster im oberen Bereich der Wand quer eingebaut. Das hat vor allem praktische Gründe […] vor allem auch zum Kosten sparen. Denn so schön großflächige Panoramafenster auch sind, mit kleineren Scheiben lässt sich im Winter mit weit weniger Aufwand die Wärme im Haus halten und im Sommer das Gebäude vor Hitze schützen.
Vorstellbar, dass in Zeiten steigender Heizkosten (und eines wachsenden Unbehagens, durch den Kauf von russischem Gas den Angriffskrieg auf die Ukraine zu finanzieren) die bodentiefen Fenster aus der neuen Wohnbebauung verschwinden.
Und dann ist da ja noch dieser Typ, der Fenster in Wohngebäuden ganz abschaffen will … aber das ist eine andere Geschichte.