Wenn Sie, werte Leserinnen und Leser, nur Zeit für einen neuen Roman mit Wolken auf dem Cover haben, der von der Aufarbeitung familiärer Traumata erzählt und am Ende stirbt die Hauptfigur an Krebs — wie sollen Sie sich dann entscheiden?
Für Michel Houellebecq und sein Buch Vernichten, das in allen Feuilletons auf Seite 1 besprochen wurde? Oder für Anselm Neft und Späte Kinder, einen Autoren, von dem Sie ehrlich gesagt noch nie gehört haben?
Easy. Nehmen Sie Neft. Das sage ich nicht nur, weil mich der Autor neulich nachts im Wohlerspark mit alkoholfreiem Bier gefügig machte und mir dann sein Buch in die wehrlosen Hände drückte.
Erstens: Gegen Houellebecq
Vernichten von Michel Houellebecq ist leider ein konfuses und unbefriedigendes Buch. Drei Plots, alle nur halb erzählt, sind hier auf ermüdenden 600 Seiten zusammengestückelt. Es gibt Kritiker, die darin nicht Unvermögen sehen, sondern einen besonderen Realismus. Denn konfus, unbefriedigend und ermüdend — hey, so ist das echte Leben doch auch! Mein Beileid an die Kollegen.
Was mir an Houllebecq Spaß macht, ist sein Spiel mit gefährlichen Ideen (siehe: die Globalisierung zuende denken in Plattform, siehe: Islamismus gar nicht so schlecht finden in Unterwerfung). Das spielt in Vernichten nur eine nachrangige Rolle. Was er hier über satanischen Neoprimitivismus schreibt — prickelnd! Doch das sind ca. 60 von 600 Seiten.
Was mich an Houellebecq aber nervt, das nervt auch hier. Zum Beispiel seine Misogynie (OK, es ist nicht seine Misogynie, bloß die eines jeden seiner Erzähler). Wenn Frauen in Vernichten Autonomiebestrebungen entwickeln, werden sie irre Hexen, korrupte Netzfeministinnen oder fangen an zu töpfern. Die einzige Frau, deren Lebensentwurf hier als gelungen dargestellt wird, finanziert sich ihr Studium als Escort, ehe sie bald in den Hafen der Ehe einschiffen wird. Gähn.
Ja, aber die Sprache? Ist die Sprache nicht toll? Bestimmt. Wenn man den Roman auf Französisch liest. Die Herren, die ihn ins Deutsche übertragen haben, sind für diese Aufgabe leider nicht recht geeignet. Ihre Herzen sind zu rein! Wenn Houellebecq über Pornoseiten schreibt, übersetzen sie offenbar »beaver« mit »Biber« und »cock sucking« mit »Hahn lutschen«. (Das denke ich mir nicht aus: Seite 255!)
Zweitens: Für Neft
Anselm Neft hat den strategischen Vorteil, dass er seinen Roman gleich auf Deutsch geschrieben hat. Aber: Er spielt fair und macht es seinen Leserinnen und Lesern trotzdem nicht zu leicht.
Gleich die erste Szene in Späte Kinder erzählt von einer Sterbenskranken, die Sex über sich ergehen lässt, den sie nicht will, und dabei aufmunternd stöhnt, damit es schneller vorbei ist. Die zweite Szene schildert dann, wie dieselbe Frau in einer Autobahnraststätte pappige Burger in sich reindrückt, ähnlich widerwillig, wie sie sich vorher noch von ihrem Ehemann beschlafen lies.
Es ist also relativ unwahrscheinlich, dass Leserinnen und Leser im Buchladen in Späte Kinder reinblättern, die ersten Seiten lesen und denken: »Muss ich haben!« Deshalb hier mit Nachdruck: Lesen Sie das mal trotzdem weiter!
In Späte Kinder macht sich ein erwachsenes Geschwisterpaar daran, das Haus der verstorbenen Eltern auszuräumen. Dabei werden Schwester und Bruder mit der Frage konfrontiert, wieso sich ihre eigenen Leben so falsch anfühlen. Und ob daran die Eltern schuld sind — oder eher die eigene Unfähigkeit, mit den Eltern zu reden, als sie noch lebten?
Das ist natürlich ein viel größerer Horror als bei Houellebecq die satanischen Neoprimitivisten (Stichwort: der besondere Realismus).
Neben dem kleinen, großen Drama mag ich, wie viel präzise beobachtete und erzählte Gegenwart in diesem Roman steckt. Mehr als bei Houellebecq, würde ich sagen. Es gibt sogar eine leicht korrumpierbare Netzfeministin, die aber anders als beim französischen Meister plausibel skizziert und fair behandelt wird.
Außerdem: Keine 300 Seiten! Und wenn Sie Neft jetzt lesen, können Sie später damit angeben, ihn vor dem Feuilleton entdeckt zu haben. Just sayin‘.
P.S.: Auch Vernichten habe ich geschenkt bekommen, vom Dumont-Verlag. Danke!
P.P.S.: Neft liest am Donnerstag im Literaturhaus Hamburg und im Internet. Mehr dazu hier.