Viele, die Selfies kritisieren, verweisen wieder und wieder (und wieder und wieder und wieder) darauf, dass es sich hierbei um ein Symptom des Narzissmus handele. Dieser kleinste gemeinsame Nenner der Selfie-Kritik ist zugleich ihr Totschlagargument. Wer Selfies als Symptome einer Massenpathologie deutet, entlässt sich selbst aus der Pflicht, weiter zu argumentieren: Selfies sind schlecht, weil Selfies schlecht sind.
Mich interessieren Selfies nicht aus psychologischer Sicht. Als Kulturjournalist reizt mich die Idee, es könne sich hierbei um eine neue (und paradoxerweise globale) Volkskunst handeln. Quasi um eine Fortsetzung der Volkskunst unter den Bedingungen des Internets. Der amerikanische Kunstkritiker Jerry Saltz formulierte diesen Gedanken in seinem Essay Art at Arm’s Length – A History of the Selfie.
Ich glaube, dass es sich lohnen würde, vorurteilsfrei über Selfies zu diskutieren. Trotzdem fällt in jedem Gespräch, kommt in so vielen Artikeln früher oder später der kategorische Narzissmus-Vorwurf: »Selfies sind doch voll narzisstisch, ey«.
Die Verbreitung dieses Vorurteils (und die Vehemenz, mit der es oft vorgetragen wird) ist erstaunlich. Erst recht, wenn man sich die Mühe macht, den griechischen Mythos von Narziss tatsächlich zu lesen. Dann nämlich merkt man: Wer Selfies macht, ist gar nicht narzisstisch! Zumindest nicht in dem Sinne, in dem Narziss narzisstisch war.
Erinnern wir uns: Narziss war ein junger Mann, der eines Tages an ein Gewässer kam. Ovid beschreibt das in den Metamorphosen so:
Dort war ein lauterer Quell, mit silberhellem Gewässer,
Welchen nimmer ein Hirt, noch weidende Ziegen der Berghöh’n,
AngerĂĽhrt, noch anderes Vieh; den nimmer ein Vogel
Oder ein Wild getrĂĽbt, noch ein abgefallener Baumzweig.
So rein war die Wasseroberfläche, so perfekt waren die Lichtverhältnisse, dass sich Narziss im Wasser spiegelte, wie er sich noch nie im Wasser gespiegelt hatte. Er erblickte sich selbst, und fand sich unfassbar wunderschön: die Augen wie Sterne, der Körper wie Mamor, etc., etc. (Narziss war 16 Jahre alt, verzeihen wir ihm also seine Pennälerlyrik.) Blöd: Narziss checkte er nicht, dass er sich selbst sah.
Noch mal Ovid:
Sich verlanget der Tor; und der Lobende ist der Gelobte.
Suchend wird er gesucht; zugleich entflammt er und brennt er.
Oftmals naht‘ er umsonst dem täuschenden Borne mit KĂĽssen;
Oftmals mitten hinein, den gesehenen Hals zu umfangen,
Taucht‘ er die Arm in die Quell‘ und haschte sich nicht in dem Quelle.
Die kalte Dusche half nicht, Narziss blieb gefesselt von seiner Reflektion im Wasser und ging daran zu Grunde. Entweder ertrank er oder verhungerte, es gibt unterschiedliche Erzählungen. Jedenfalls gibt es kein Happy End, dafür aber eine Moral: Wer nur sich selbst liebt, stirbt einsam.

Soweit der Narziss-Mythos, wie ihn jeder kennt, sogar Absolventen neusprachlicher Gymnasien (zu denen auch ich zähle, weshalb ich hier auf die Ovid-Übersetzung von Johann Heinrich Voß angewiesen bin).
Der Mythos hat aber noch eine Vorgeschichte: Viele JĂĽnglinge und Jungfrauen, so erzählt es Ovid, stellten Narziss nach. Doch keine und keiner durfte ihn je anfassen. Die Nymphe Echo wurde von Narziss besonders schroff zurĂĽckgewiesen: »lieber den Tod, als dir mich schenken, begehr‘ ich!« Das entpuppte sich als selbsterfĂĽllende Prophezeiung. Zusätzlich wurde Narziss verflucht von einem Verschmähten, der sich nach der ZurĂĽckweisung das Leben nahm.
Narziss liebte also nicht nur sich selbst – er liebte auch andere nicht. Sein Tod resultierte direkt daraus, dass er nicht bereit war, seinen Körper mit anderen zu teilen, sich an andere zu verschenken. Das ist kein unwichtiges Detail im Zusammenhang mit der Diskussion über Selfies.
Eine moderne Entsprechung des Narziss im griechischen Mythos wäre nun jemand, der so gebannt seine Spiegelung auf dem iPhones-Display anstarrt, bis er verhungert. Oder jemand, der mit der Kamera seines Handys sich selbst fotografiert und danach so entzückt durch die Galerie mit Fotos von sich selbst wischt, dass er darüber das Essen vergisst.
Die meisten Menschen, die Selfies machen, behalten diese aber nicht für sich selbst: Sie schicken sie an andere (per E-Mail, Snapchat, Threema, wie auch immer). Oder sie stellen sie gleich für alle Welt sichtbar ins Netz (auf Facebook, Instagram, Twitter, egal). In der Regel ist das spätere Versenden und Teilen des Selfies wohl die Hauptmotivation, es überhaupt aufzunehmen. Folgt man dem Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich, sind Selfies sogar per definitionem eingebunden in einen Kommunikationsakt.
Selfies zu machen ist demnach das Gegenteil von dem, was Narziss tat! Wer Selfies macht, verschenkt sich (oder, okay: sein Abbild) an andere. Manchmal sogar an die ganze Welt.
Deshalb sind Selfies – mythologisch gesprochen – nicht narzisstisch.
P.S.: Oder man geht noch weiter mit der Narziss-Interpretation, so wie Annekathrin Kohout in ihrem Blog. Dort schreibt sie sinngemäß: Narziss ist gar nicht an seiner Selbstliebe zu Grunde gegangen, sondern an seiner mangelnden Medienkompetenz. Der Idiot hätte ja mal merken können, dass er nicht einen anderen Typen sieht, sondern in ein Gewässer starrt.
Dieses Posting ist der vierte Teil einer unregelmäßigen Serie, in der ich Gedanken zum Selfie notiere. Teil 1: Warum man Handyfotos von klassischer Fotografie unterscheiden muss. Teil 2: Der Unterschied von Selfies und Selbstporträts (Thesen des Kunstwissenschaftlers Wolfgang Ullrich). Teil 3: Selfies kritisieren aber zu Pressefotos schweigen? Das ist unverhältnismäßig.
Die Abbildung oben zeigt das Gemälde »Echo and Narcissus« (1903) von John William Waterhouse. Anders als im Gemälde von Carvaggio sind beide Elemente von Narziss verkorkster Gefühlswelt zu sehen: Die Selbstliebe und die Zurückweisung (hier: der nachlässig gekleideten Nymphe Echo). Komisch nur, dass das Gewässer in Waterhouses Darstellung so brackig ist. Das Original hängt in der Walker Art Gallery in Liverpool. (Gemeinfrei via Wikimedia.)